Erinnern, kämpfen, mitgestalten – Rom:nja in der Ukraine
Shownotes
Sinti:ze und Rom:nja gehören zur größten Minderheit Europas – und bleiben doch oft unsichtbar. Auch im Krieg gegen die Ukraine. In dieser Folge sprechen ukrainische Rom:nja über Mehrfachdiskriminierung, Armut und strukturelle Ausgrenzung – und darüber, wie sie sich trotzdem engagieren: in der Erinnerungskultur, der humanitären Hilfe, an der Front oder im zivilgesellschaftlichen Wiederaufbau.
Zu hören sind: Laslo Djuri, Überlebender des NS-Völkermords an den Rom:nja und Initiator humanitärer Projekte, der Ethnologe Janush Panchenko, die Frauenrechtsaktivistin Anzhelika Bielova sowie Artur Ivanenko von der Organisation Kherson City Society of Young Roma. Sie alle kämpfen für Sichtbarkeit, Anerkennung und gleiche Rechte. Eine Folge über Diskriminierung in der Ukraine und in Deutschland, Erinnern im Krieg, Widerstandskraft und die Frage: Wie gelingt Teilhabe trotz Ausschluss?
Weitere Links aus dieser Podcastfolge:
- EVZ-Förderprogramm Latscho Diwes 2.0 zur Unterstützung von Überlebenden der Rom:nja und ihrer Nachkommen
- EVZ-Förderprogramm local.history zur lokalen Unterstützung von Geschichtsinitiativen aus Mittel- und Osteuropa
- Interview mit Anzhelika Bielova als EVZ Fellow
- Vereinigung Association of Roma women “Voice of Romni”
- Verein ARCA
Hinweis:
- Bei Min. 30:35 geht es um Viber-Gruppen, Viber ist ein Chatdienst.
Sie haben Feedback, Anregungen oder Kritik? Schreiben Sie uns an standwithukraine@stiftung-evz.de
Idee: Stiftung Erinnerung, Verantwortung, und Zukunft (EVZ)
Konzeption und Moderation: Ira Peter
Produktion: speak low, Berlin
Musik: Kolpakov Duo – Vadim and Alexander (Sasha) Kolpakov Sr.; Vadim Kolpakov & Via Romen
Transkript anzeigen
Ira: Sinti:ze und Rom:nja – sie gehören zu den größten Minderheiten Europas. Und doch bleiben sie oft übersehen. Auch im Krieg gegen die Ukraine. Diese Folge erzählt von Menschen, die mehrfach marginalisiert sind – und trotzdem mitgestalten und sich beispielsweise für das Erinnern einsetzen. Laslo Djuri, ukrainischer Rom und Überlebender des NS-Völkermords, sagt:
Laslo: „Wir lieben dieses Land, in dem wir leben. Deshalb kämpfen auch unsere – obwohl wir diesen Krieg nicht wollen. Wir brauchen Frieden.”
Ira: Wie ein großer Teil der Rom:nja in der Ukraine lebt auch er in Armut. Vielen fehlt der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung oder angemessenem Wohnraum. Der Krieg hat diese Missstände weiter verschärft. Und dennoch engagieren sich zahlreiche Menschen – in der humanitären Hilfe, im Wiederaufbau und in der Zivilgesellschaft, so wie der Ethnologe Janush Panchenko.
Janush: „Es ist wichtig, dass man von ihnen weiß. Hier braucht man die Zivilgesellschaft.“
Ira: Auch die Feministin Anzhelika Bielova kämpft für Sichtbarkeit und Gleichberechtigung – gerade für Roma-Frauen und Mädchen:
Anzhelika: „Wir brauchen als Roma-Community keinen Sonderstatus – sondern echte Lösungen für reale Probleme.“
Ira: Wer sind die Rom:nja in der Ukraine? Was heißt Erinnern im Krieg? Und wie gelingt gesellschaftliche Teilhabe trotz Ausgrenzung? Eine Geschichte über Widerstand, Anerkennung und den langen Weg zur Gleichberechtigung – in der Ukraine und hier in Deutschland.
Jingle: Trümmer & Träume. Zivilgesellschaft für die Ukraine. Ein Podcast der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
Ira: Es ist ein sonniger Tag in einem Dorf in Transkarpatien – einer Grenzregion, wo die Ukraine, Rumänien, Ungarn und die Slowakei aufeinandertreffen – gezeichnet von Jahrhunderten des Dazwischen, der Imperien und der Kriege. Auf meinem Bildschirm erscheint Laslo Djuri, 84 Jahre alt. Er ist einer der letzten Zeitzeugen des Völkermords an den Rom:nja in der Ukraine. Zwischen 20.000 und 50.000 von ihnen wurden dort während der NS-Besatzung ermordet. Laslo spricht mit mir über das, was damals geschah – und warum er bis heute für seine Gemeinschaft kämpft. Welche Erinnerungen hat er an seine Kindheit?
Laslo: Es waren sehr schwierige Zeiten, man ließ uns damals nicht ohne Erlaubnis auf die Straße. Nicht mal, um ein paar Pilze im Wald zu sammeln. Und wenn ich Süßigkeiten wollte, habe ich bestimmte Blätter im Wald abgeleckt. Nicht die Ziegen haben Akazien gegessen, sondern wir. Oma hat uns Brennnesseln gekocht, manchmal auch rote Beete, damit wir nicht verhungerten.
Ira: Er lebte damals zusammen mit seinen vier Geschwistern und der Mutter bei der Großmutter. Sie passte auf die Kleinen auf, während seine Mutter von Haus zu Haus zog, um etwas Geld mit Maler-Hilfsarbeiten zu verdienen. Der Vater kämpfte an der Front. 1944 entgingen Laslo und seine Familie nur knapp dem Transport in ein Konzentrationslager der Nazis.
Laslo: Man hat uns 1944 geholt und nach Mukatschewo in ein Lager gebracht, man wollte uns nach Deutschland oder irgendwo hinschicken.
Ira: Mukatschewo, im äußersten Südwesten der Ukraine, war während des Zweiten Weltkriegs ein zentraler Ort der Verfolgung von Rom:nja. Zwischen 1939 und 1944 stand die Region unter ungarischer Kontrolle – damals war Ungarn ein Verbündeter Nazi-Deutschlands. Später besetzte die Wehrmacht das Gebiet. Viele Rom:nja wurden dort verhaftet, in Lager gebracht und in KZs deportiert.
Laslo: Dann kam die rote Armee und hat uns aus dem Lager befreit.
Ira: Seine Familie hatte also Glück. 250 bis 500.000 Rom:nja und Sinti:ze aber starben durch Zwangsarbeit, Massenerschießungen und in Konzentrationslagern – vor allem in Polen, der Ukraine, im Baltikum und im Deutschen Reich. Diese Verbrechen waren Teil des europaweiten Völkermords an den Sinti:ze und Rom:nja. Laslo spricht mit mir in einer Mischung aus Ukrainisch und Russisch. Ab und zu wechselt er ins Romani, die Sprache der Rom:nja, wenn er sich an seine Frau im Hintergrund wendet. Ich sehe sie nicht, aber ihre Stimme begleitet unser Gespräch. Ihre Sprache ist Teil einer lebendigen Kultur. Doch was genau zeichnet die Kultur der Rom:nja aus? Und lässt sich bei so einer diversen Community überhaupt eine gemeinsame Kultur annehmen? Darüber spreche ich mit Janush Panchenko. Er ist 33, selbst ukrainischer Rom und als Ethnograph Experte für die Geschichte, die Sprachen und Identität seiner Community.
Janush: Ein großer Teil der Sinti:ze und Rom:nja weltweit stammt ursprünglich aus Indien. Ihre Vorfahren wanderten vor vielen Jahrhunderten aus dem heutigen Nordwestindien aus und ließen sich nach und nach in ganz Europa nieder – auch in der Ukraine. Die ersten Rom:nja-Gruppen tauchten hier vermutlich im 15. oder 16. Jahrhundert auf.
Ira: Wie viele Rom:nja leben heute in der Ukraine?
Janush: Offiziell liegt die Zahl laut Volkszählung von 2001 bei rund 48.000. Inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 400.000 aus – das mag zu hoch gegriffen ist. Aber 200.000 ist eine realistische Annäherung. Die Roma-Bevölkerung in der Ukraine ist sehr vielfältig. Tatsächlich gibt es etwa 15 Subgruppen. Einige davon sind sich in Sprache und Kultur sehr ähnlich, andere unterscheiden sich deutlich. Diese Vielfalt hängt meist nicht vom geografischen Ort ab. In einer Stadt können zwei, drei oder sogar vier unterschiedliche Gruppen leben – zum Teil mit großen Unterschieden. Gleichzeitig kann in Cherson und Lviv die gleiche Gruppe ansässig sein, und zwischen ihnen gibt es kaum Unterschiede. Wenn man historisch schaut, dann leben zum Beispiel in Transkarpatien hauptsächlich transkarpatische Rom:nja.
Ira: Die Vielfalt der Gruppe innerhalb der Ukraine ist also groß. Eine der bekanntesten Gruppen im deutschsprachigen Raum sind die Sinti:ze. Ihre Vorfahren kamen im späten Mittelalter über den Balkan nach Mitteleuropa. Viele leben seit Jahrhunderten in Deutschland und betrachten sich als deutsche Minderheit mit eigener Sprache – dem Sinti-Romanés – und eigener Kultur. Während der NS-Zeit wurden schätzungsweise 13 bis 15.000 deutsche Sinti:ze und Rom:nja ermordet. Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik dieses Verbrechen als Teil der nationalsozialistischen Vernichtungs-Politik an. Durch den aktuellen Krieg ist das Leben vieler Rom:nja in der Ukraine erneut bedroht. Seit Beginn der russischen Invasion ist ein Teil geflohen, auch Janush. Zunächst blieb er aber unter russischer Okkupation in Kachowka bei Cherson.
Janush: Wir sind lange nicht weggegangen und haben etwa fünf oder sechs Monate in der besetzten Stadt ausgeharrt. Zum einen, weil ich in die humanitäre Hilfe für die lokale Roma-Community eingebunden war. Viele hatten dort einfach keine Möglichkeit mehr, Lebensmittel zu kaufen. Doch es gab etwas Unterstützung durch Organisationen oder durch Menschen, die schon geflohen waren. Sie waren von vielen Faktoren abhängig.
Ira: Die Situation wurde für ihn, der ein Jugendhaus für Rom:nja vor Ort geleitet hatte, immer gefährlicher. Vermehrt plünderten russische Soldaten Häuser und verhafteten Menschen, die sie verdächtigten, den ukrainischen Streitkräften zu helfen.
Janush: Dann war ich dran. Man sagte mir, dass die Soldaten bereits nach mir gefragt hätten. Das war letztlich der ausschlaggebende Moment, der uns dazu gebracht hat, dann sofort zu fahren.
Ira: Weil eine Ausreise über die Ukraine zu gefährlich war – an der Frontlinie drohten jederzeit Angriffe –, entschied er sich wie viele andere, über die Krim und Russland mit dem Auto zu fliehen. Dafür musste er ein Verfahren durchlaufen, das als sogenannte „Filtration“ bekannt ist.
Janush: Die Filtration wurde bei mir auf der Krim durchgeführt. Vorher musste ich mich gut vorbereiten: Ich kaufte ein anderes Handy, löschte alle Daten – es sollte so wirken, als sei es ein bereits länger genutztes Gerät. Auf der Krim selbst gab es dann ein Verhör. Es war nicht besonders lang – auch wenn es sich so anfühlte. Vielleicht 25 Minuten, danach noch einmal etwa eine halbe Stunde, in der sie uns Dokumente und Handys abnahmen und sie durchsuchten.
Ira: Man lässt ihn und seine Angehörigen gehen. Einige Tage später sind sie nach einer Odyssee durch Russland unter ständiger Angst, gestoppt zu werden, in Deutschland, wo er bis heute lebt. Von hier aus engagiert er sich weiterhin für seine Community.
Janush: Ich hatte eigentlich nie vor, die Ukraine dauerhaft zu verlassen. Es war also nicht meine Entscheidung. Die Situation hat mich dazu gezwungen. Und für mich hat sich dadurch sehr viel verändert. In Kachowka habe ich im Roma-Umfeld gelebt, war ständig von meiner Community umgeben. Heute ist diese Gemeinschaft praktisch zerstört. Einige sind geblieben – aber nur wenige. Manche sind nach Deutschland gegangen, andere nach Frankreich oder anderswohin. Und selbst wenn sie ins gleiche Land gezogen sind, leben sie in verschiedenen Städten. Das heißt: Die Gemeinschaft existiert in dieser Form nicht mehr. Ich habe hier keine Probleme in Deutschland, aber natürlich mache ich mir Sorgen – vor allem darüber, was gerade zu Hause passiert.
Ira: Auch Laslo macht sich Sorgen. Zwar lebt er selbst im vergleichsweise sicheren Transkarpatien, doch ein Teil seiner großen Familie – mit über 40 Enkeln und Urenkeln – lebt weiter im Osten. Einige seiner Angehörigen kämpfen an der Front.
Laslo: Das Leben ist gerade schwer – wegen des Krieges. Wir wollen diesen Krieg nicht, aber er ist da. Die Männer sind an der Front, hier sind Frauen und Kinder geblieben. Unsere Kinder und Enkel leben in Kyjiw, in Hochhäusern. Ich sorge mich sehr um sie.
Ira: Trotz aller Sorgen ist er engagiert und setzt sich als Leiter der NGO „Romano Drom“ für NS-Überlebende und die Roma-Community in Transkarpatien ein.
Laslo: Mittlerweile war ich auch krank, bekomme manchmal schlecht Luft, aber ich arbeite trotzdem. Es sind nur noch 18 Menschen geblieben, die den Holocaust überlebt haben.
Ira: Vor einigen Jahren waren es noch über 200 Zeitzeug:innen des Völkermords. Mit jedem Verlust verschwindet auch ein Teil des gelebten Wissens. Das bedauert Laslo sehr. Doch es gibt junge Menschen in der Ukraine, die sich dafür einsetzen, dass diese Erinnerungen nicht verblassen. Einer von ihnen ist Artur Ivanenko. Der 28-Jährige leitet die Organisation „Cherson City Society of Young Roma“, die sich für die Rechte junger Rom:nja starkmacht – und mit dem Projekt „Roma Community Chronicles“ auch an den NS-Völkermord erinnert. Was genau steckt dahinter?
Artur: Es ist ein historisches Dokumentationsprojekt zur Entwicklung der Roma-Bewegung in der Ukraine – mit einem besonderen Fokus auf Erinnerung und den Völkermord an den Rom:nja. Unser Ziel ist es, junge Roma-Aktive darin auszubilden, Oral-History-Gespräche zu führen und professionelle Interviews zu erstellen. Diese jungen Forschenden bauen damit ein digitales Archiv auf, das Erfahrungen, Erfolge und Herausforderungen von Roma-Aktivist:innen dokumentiert. Geplant sind außerdem Podcasts, ein Dokumentarfilm und eine grafische Erzählung, die aus dem gesammelten Material entwickelt wird. Mit unseren Projekten wollen wir nicht nur Geschichte bewahren, sondern auch zeigen, wie sich die Roma-Bewegung in der Ukraine entwickelt und welchen Beitrag sie leistet. Uns geht es darum, der nächsten Generation zu vermitteln, wie wichtig unser kollektives Gedächtnis ist – und dass ihr eigener Aktivismus dazugehört. Durch unser Trainingsprogramm befähigen wir junge Menschen, Verantwortung zu übernehmen: für das Dokumentieren und Weitergeben dieses Wissens. Natürlich ist das nicht einfach. Eigentlich wollten wir das Projekt in Cherson umsetzen – aber das war unter den aktuellen Bedingungen unmöglich. Jetzt suchen wir nach einem sicheren Ort für unsere Teilnehmenden.
Ira: Oft wissen Überlebende und ihre Familien kaum etwas über die NS-Verfolgung – der Völkermord an den Rom:nja ist in der Ukraine bis heute kaum erforscht. Archive sind lückenhaft, viele Zeitzeug:innen haben geschwiegen. Zu stark war die Scham, zu groß die Ausgrenzung. Was hat Artur dazu bewegt, sich mit genau diesem Thema zu beschäftigen?
Artur: Die Idee entstand eigentlich schon vor vielen Jahren – da war ich etwa 13. Ich erinnere mich genau, wie ich im Geschichtsunterricht mein Schulbuch aufschlug, beim Thema Zweiter Weltkrieg. Und ich fand fast keinen Hinweis auf die Rom:nja als Opfer des Genozids. Nur ein einziger, kurzer Satz: dass auch Rom:nja gelitten hätten. In diesem Moment wusste ich: Es muss sich etwas ändern. Aus dieser frühen Motivation heraus begannen wir, Dokumentarfilme zu drehen, an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen – etwa in ehemaligen Konzentrationslagern – und unsere Geschichte intensiver zu erforschen, um sie zu bewahren.
Ira: War auch seine Familie von NS-Verbrechen betroffen?
Artur: Auch meine Familie trägt eine schmerzhafte Geschichte aus der NS-Zeit. Meine Großmutter erzählte mir einmal von meiner Urgroßmutter, die Zeugin des Genozids wurde. Damals lebten viele Rom:nja noch als Nomaden. Die Nazis fanden die Gruppe im Wald – und töteten fast alle Männer. In diesem Moment der Verzweiflung übernahm meine Urgroßmutter Verantwortung: Sie führte die überlebenden Frauen und Kinder tiefer in den Wald, versteckte sie – und rettete so ihr Leben. Diese Geschichte hat mich tief geprägt. Deshalb führe ich Interviews, um zu verstehen, was damals wirklich passiert ist, und um die Erinnerung lebendig zu halten. Es motiviert mich, dafür zu sorgen, dass unsere Geschichte nicht vergessen – und weitererzählt wird.
Ira: Wie viele jüdische Menschen in der Ukraine, wurden Rom:nja oft direkt vor Ort ermordet – zum Beispiel in Babyn Jar, einer Schlucht bei Kyjiw. 1941 wurde sie zum Tatort eines der bekanntesten NS-Massaker: Über 33.000 Jüdinnen und Juden wurden dort in nur 2 Tagen erschossen – und was viele nicht wissen: auch Hunderte von Rom:nja. Gab es regionale Unterschiede bei den Morden?
Artur: Die Verfolgung der Rom:nja durch die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten verlief in der Ukraine regional sehr unterschiedlich. In der Zentral- und Ostukraine wurden sie oft direkt vor Ort erschossen – ohne Registrierung oder Deportation. In der Westukraine hingegen wurden sie teils unter Aufsicht gestellt oder in isolierte Siedlungen gebracht, was ihre Überlebenschancen leicht erhöhte. In Transnistrien wurden Tausende deportiert und starben an Hunger und Krankheit. Diese Unterschiede zeigen, wie die NS-Politik an lokale Verwaltungssysteme angepasst wurde – das Ziel der Vernichtung war jedoch überall dasselbe.
Ira: Trotz dieser grausamen Geschichte bleibt der Völkermord an den europäischen Sinti:ze und Rom:nja in der öffentlichen Erinnerung und im Bildungssystem weitgehend unterrepräsentiert – in der Ukraine, aber auch in Deutschland. An Gedenkorten und ehemaligen Konzentrationslagern in Europa wird ihr Leid meist nur am Rande erwähnt – oft ohne Kontext oder Erklärung.
Artur: Diese anhaltende Marginalisierung zeigt, wie wichtig Aufklärung und Bewusstseinsbildung über die Erfahrungen der Rom:nja im Holocaust sind. Erst vor zwei Tagen war ich in Lublin, im ehemaligen Konzentrationslager Majdanek – und unser Guide hat kein einziges Wort über Rom:nja gesagt. Ich war richtig enttäuscht. Denn viele Menschen wissen bis heute nichts über den Genozid an den Rom:nja.
Ira: Warum haben Arturs Organisation und er gerade jetzt angefangen, Interviews zu sammeln? Und wie funktioniert diese Arbeit unter Kriegsbedingungen?
Artur: Wir versuchen gerade, etwas zu unternehmen, weil wir viel Zeit verloren haben. Es ist heute kaum noch möglich, Informationen über den Genozid an den Rom:nja zu finden, um die Geschichten unserer Vorfahren zu belegen. Deshalb sitzen wir immer wieder in Archiven, suchen nach Berichten, nach Zeugenaussagen. Heute ist das für uns eines der wichtigsten Themen: Erinnerungen sammeln, sie bewahren – und alles in einem digitalen Archiv festhalten. Eine Ausstellung in der Ukraine zu machen ist im Moment unmöglich. Sie könnte an einem einzigen Tag zerstört werden. Wir wollen keine weiteren Artefakte verlieren. Ein digitales Archiv ist deshalb mehr als nur eine Notlösung – es ist der richtige Weg, um Wissen zu teilen, Menschen zu erreichen und unsere Geschichte an die nächste Generation weiterzugeben.
Ira: Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft unterstützt dieses und andere Projekte in der Ukraine, welche das Erinnern an diese Verbrechen stärken möchten. Hat Deutschland auch 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine besondere Verantwortung?
Artur: Deutschland trägt eine besondere moralische und historische Verantwortung gegenüber den Rom:nja in der Ukraine. Zwar hat Deutschland Fortschritte bei der Aufarbeitung und Erinnerung an den Holocaust gemacht, doch der Genozid an den Rom:nja bleibt bis heute deutlich weniger anerkannt und unterstützt. Einrichtungen wie die Stiftung Erinnerung, Verantwrtung und Zukunft haben begonnen, Überlebende zu unterstützen und Initiativen zur Bewahrung der Erinnerung zu fördern – aber das ist erst ein Anfang. Da das Trauma und die Erfahrungen der Rom:nja im Zweiten Weltkrieg Effekte auf die nachfolgende Generation haben, ist es wichtig, in die Zukunft zu investieren: vor allem durch die Stärkung junger Roma-Leader und den Aufbau einer selbstbewussten zivilgesellschaftlichen Bewegung.
Ira: Wie kann Deutschland noch unterstützen?
Artur: Durch die Unterstützung von Gedenk- und Bildungsprojekten in der Ukraine, durch die angemessene Darstellung der Geschichte der Rom:nja in Museen und Lehrplänen – sowohl in Deutschland als auch international. Außerdem sollte es Wiedergutmachung oder symbolische Entschädigung geben für Überlebende und ihre Familien, humanitäre und Integrationshilfe für Roma-Geflüchtete aus der Ukraine und es sollten langfristige Partnerschaften mit Roma-Organisationen gefördert, um eine integrative, nachhaltige Politik und Erinnerungsarbeit aufzubauen. Denn Erinnerung darf sich nicht nur in Denkmälern und Worten ausdrücken, sondern muss sich in Taten zeigen: durch Investitionen in Würde, Teilhabe und die Zukunft der Roma-Communities.
Ira: Und wie unterstützt die Ukraine Angehörige der Rom:nja?
Artur: Vom Staat selbst kommt kaum etwas. Man muss ständig selbst etwas initiieren. Und das ist schwer, gerade jetzt im Krieg. Unsere Anliegen haben da keine Priorität. Aber für uns bedeutet das Schmerz. Deshalb versuchen wir immer wieder, Gespräche mit der Regierung und vielen Menschen zu führen, um neue Wege zu finden.
Ira: Doch mangelnde Unterstützung betrifft nicht nur die Erinnerungskultur – auch im Alltag erfahren viele Rom:nja in der Ukraine wenig Anerkennung und Teilhabe. Diskriminierung ist für viele bittere Realität. Besonders in Regionen wie Transkarpatien leben zahlreiche Familien wie die von Laslo unter prekären Bedingungen, oft isoliert von der Mehrheitsgesellschaft. Wie erleben Betroffene das – im Alltag, im Bildungssystem, auf der Flucht? Darüber spreche ich mit Anzhelika Bielova: Sie ist Romni, Feministin und Gründerin von „G(H)olos Romni“, „Stimme der Romni“, einer Nichtregierungsorganisation mit Filialen in vier ukrainischen Städten. Wie nimmt sie die Diskriminierung in der Ukraine derzeit wahr?
Anzhelika: Ich sehe aktuell keine starke Zunahme von Diskriminierung oder Verschlechterung der Situation wie seit 2014 in der Ukraine. Hassverbrechen gegen Rom:nja gab es schon vorher und es gibt sie weiterhin. Es hat sich nichts verändert. Es gibt keine offenen Angriffe, aber in den Medien taucht immer wieder Hassrede auf – und genau da setzen wir an. Ich sehe auch erste Erfolge: Zum Beispiel vermeiden es manche Medien mittlerweile, die ethnische Herkunft von Tatverdächtigen zu nennen. Das ist ein Ergebnis der Arbeit von Roma-NGOs, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Journalist*innen.
Ira: Welche Folgen hat der russische Angriffskrieg für Rom:nja?
Anzhelika: Kürzlich haben wir eine Studie zur Situation der Rom:nja während des Krieges in der Ukraine durchgeführt. Dabei wurde deutlich: Die dringendste Herausforderung ist aktuell der Zugang zu fair bezahlter Arbeit. Angesichts der wirtschaftlichen Krise im Land betrifft das natürlich viele – aber besonders vulnerable und marginalisierte Gruppen wie die Roma-Community. Denn häufig fehlt es an Bildung und beruflicher Qualifikation. Und genau das macht den Zugang zum Arbeitsmarkt besonders schwierig. Auch hier spielt Diskriminierung eine große Rolle. Laut unserer Recherchen verbergen viele Angehörige der Roma-Community ihre Herkunft, weil sie befürchten, sonst keine Anstellung zu bekommen. Aus Angst geben sie sich häufig als Angehörige anderer Nationalitäten aus – vor allem, wenn sie durch ihre Hautfarbe auffallen.
Ira: Rom:nja seien zudem eine gefährdete Gruppe unter Binnengeflüchteten, denn viele von ihnen sind nicht als offizielle Bürger:innen der Ukraine anerkannt. Manche besitzen noch sowjetische oder gar keine Ausweisdokumente. An manchen Orten ist die ukrainische Bevölkerung gegenüber Rom:nja so ablehnend eingestellt, dass Geflüchtete zurück in ihre Herkunftsorte gehen, selbst, wenn diese direkt in Frontnähe liegen.
Anzhelika: Ein weiteres dringendes Thema ist natürlich die Sicherheit – wie für alle Menschen in der Ukraine. Es geht um den Schutz ihres Lebens, ihrer Familien und ihrer Wohnungen. Durch russische Raketen, Drohnenangriffe und ständiges Bombardement werden viele Gebäude zerstört – und die Menschen leben in ständiger Angst. Unsere Organisation unterstützt gemeinsam mit “Oxfam” Familien, die durch diese Angriffe betroffen sind. Wir helfen zum Beispiel beim Wiederaufbau: ersetzen Fenster, Türen oder reparieren beschädigte Unterkünfte. Ein weiteres zentrales Thema ist der Zugang zu humanitärer Hilfe. Viele Angehörige der Roma-Community haben keine digitalen Geräte – und dadurch auch keinen Zugang zu Informationen. Deshalb arbeiten wir in unseren Regionalbüros, etwa in Saporischja, Charkiw oder Krywyj Rih, frontnahmen Regionen also, besonders intensiv daran, Menschen zu erreichen. In Transkarpatien haben wir Kommunikationskanäle aufgebaut, etwa über Viber-Gruppen, aber auch durch direkte Besuche in Roma-Siedlungen und Stadtteilen. So können wir wichtige Informationen über humanitäre Hilfsangebote weitergeben. Natürlich können wir nicht die ganze Ukraine abdecken – deshalb ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen entscheidend. Wir versuchen auch, die Behörden einzubinden, damit sie die Roma-Community gezielter unterstützen – mit staatlichen Hilfsleistungen und sozialen Diensten.
Ira: Dem European Roma Rights Centre zufolge verlassen die meisten jungen Rom:nja in der Ukraine die Schule sehr früh und oft ohne lesen zu können – wenn sie sie überhaupt besuchen. Der Krieg verschärft die Bildungssituation zusätzlich.
Anzhelika: In vielen Regionen findet der Unterricht aktuell nur digital statt – doch gerade vulnerable Familien haben oft weder Internetzugang noch elektronische Geräte. Laut unserer Erhebung gaben über 50 % der Befragten an, dass ihre Familien große finanzielle Schwierigkeiten haben. In rund 30 % der Fälle fehlt sogar das Geld für Schulmaterialien und Kleidung.
Ira: Welche Gemeinsamkeiten haben Rom:nja mit anderen marginalisierten Gruppen in der Ukraine wie queeren Menschen oder Angehörigen anderer Nationalitäten wie den Ungar:innen oder Krimtatar:innen?
Anzhelika: Natürlich die Diskriminierung – wenn die Menschen keinen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Leistungen haben. Es zeigt sich auch in ihrer mangelnden politischen Vertretung – auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Zu oft werden Rom:nja in wichtigen politischen Strategien und Programmen einfach übersehen. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass die Bedürfnisse der Roma-Community endlich in zentrale politische Prozesse einfließen – zum Beispiel in den Wiederaufbauplan der Ukraine, der für das ganze Land von großer Bedeutung ist. Aber auch in Gesetze und Strategien zu Bildung oder sozialen Diensten. Wir brauchen als Roma-Community keinen Sonderstatus – sondern echte Lösungen für reale Probleme.
Ira: Weil Roma-Frauen besonders benachteiligt sind, kämpft Anzhelika vor allem für deren Rechte.
Anzhelika: Roma-Frauen sind natürlich mehrfach diskriminiert: weil sie Frauen sind, weil sie Romnja sind, weil viele aus ländlichen Regionen kommen oder mehrere Kinder haben. Diese Merkmale überschneiden sich – und führen zu einer besonders komplexen Form von Benachteiligung. Deshalb erfahren sie oft mehr Diskriminierung als ukrainische Frauen ohne Roma-Hintergrund. Für uns ist es wichtig, an genau diesen Themen zu arbeiten – nicht nur in unseren Projekten oder innerhalb der Organisation, sondern auch auf nationaler Ebene. Wir setzen uns dafür ein, dass Roma-Frauen in politischen Strategien und Gesetzen berücksichtigt werden – etwa im Rahmen einer umfassenden nationalen Roma-Strategie. Denn auch wenn wir als Organisation gute Arbeit leisten, können wir nicht alle Rom:nja in der Ukraine erreichen. Dafür braucht es starke staatliche Strukturen.
Ira: Während Artur und Janush aus der besetzten Region um Cherson flüchten mussten, ist Anzhelika nach einigen Wochen in Ungarn in die Ukraine zurückgekehrt.
Anzhelika: Ich hatte beschlossen wegen meiner Arbeit in die Ukraine zurückzukommen. Ich glaube, das, was ich tue, ist wichtig für das Land. Ich habe Fähigkeiten, mit denen ich meiner Community und auch anderen Menschen in der Ukraine helfen kann. In den drei Jahren seit Beginn des Krieges hat meine Organisation über 106.000 Menschen unterstützt. Es ist mir wichtig, hier zu sein und weiterzumachen. Schließlich ist das mein Land. Und ich will hier sein.
Ira: Auch andere sagen: „Das ist mein Land“ und riskieren ihr Leben an der Front. Hunderte Soldat:innen aus Roma-Familien kämpfen für die Ukraine. Wie sichtbar ist ihr Einsatz im Krieg eigentlich in der Öffentlichkeit?
Anzhelika: Wir sind sehr stolz darauf – und es ist großartig –, dass derzeit viele Medien über die Roma-Community berichten und zur Aufklärung beitragen. Sowohl Roma-Männer als auch -Frauen kämpfen in den Streitkräften der Ukraine. Medien wie ‚Suspilne Uzhhorod‘ haben sogar eigene Programme, in denen sie gezielt über Roma-Soldat*innen informieren.
Ira: Auch außerhalb der Ukraine setzen sich Rom:nja dafür ein, dass ihr Beitrag zum Schutz des Landes sichtbar wird. Einer von ihnen ist Janush. Beim Café Kyjiw im März 2025 in Berlin etwa organisierte er ein Podium, auf dem ein Veteran über seine Erfahrungen sprach. Werden Rom:nja durch ihren Einsatz für die Ukraine heute positiver gesehen und weniger diskriminiert?
Janush: Schwer zu sagen. Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Ich denke, es kommt darauf an, was heute getan wird. So wird dann das Ergebnis. Wenn ich sage, dass Rom:nja aktuell nicht die am stärksten diskriminierte Gruppe in der Ukraine sind, dann liegt das nicht nur daran, dass die Diskriminierung gegenüber Russ:innen zugenommen hat, sondern auch daran, dass die Diskriminierung gegenüber Rom:nja leicht zurückgegangen ist. Es gibt also eine gewisse positive Tendenz – auch wenn sie nur schwach ausgeprägt ist. Was beeinflusst das? Die Rom:nja, die an der Front sind – es ist wichtig, dass man von ihnen weiß. Hier braucht man die Zivilgesellschaft. Aber zu glauben, dass in Zukunft alles ganz anders sein wird – das wäre romantisch und hätte wenig mit der Realität zu tun.
Ira: Er selbst fühlt sich nach beinahe drei Jahren in Deutschland hier angekommen, aber wie geht es anderen geflüchteten Rom:nja?
Janush: Manche Rom:nja, die nach Europa gekommen sind, konnten sich nicht anpassen, sind mit dem bürokratischen System nicht zurechtgekommen und sind schließlich zurückgekehrt – manche in ihre Heimatorte nahe der Frontlinie, manche in ihre Heimatorte nahe der Frontlinie, weil ihnen alles so kompliziert vorkam, dass es ihnen einfacher erschien, dort zu leben. Andere hingegen haben hier in Deutschland, in Irland ihren Platz gefunden – vor allem in diesen beiden Ländern leben aktuell viele Rom:nja, die aus der Ukraine geflohen sind. Letztlich ist jede Situation individuell: Es gibt Familien, die sich sehr gut angepasst haben – und andere, die überhaupt nicht zurechtgekommen sind.
Ira: Wie erlebt er die Diskriminierung in Deutschland?
Janush: Diskriminierung erleben ukrainische Rom:nja in Deutschland vor allem durch andere Geflüchtete aus der Ukraine – nicht durch Deutsche. Insgesamt nehmen Rom:nja aus der Ukraine Deutschland als ein Land wahr, das ihnen gegenüber toleranter ist als die Ukraine. Es gibt Fälle, in denen andere ukrainische Geflüchtete nicht mit Rom*nja in einem Zimmer oder in derselben Unterkunft leben möchten. Ich habe selbst Befragungen dazu durchgeführt: Ja, es gibt Diskriminierung – es ist nicht alles perfekt. Aber insgesamt bewerte ich die Situation als positiv.
Ira: Welche Probleme haben hier ukrainische Rom:nja trotzdem?
Janush: Wenn Rom:nja aus Transkarpatien nach Deutschland kommen, erkennt man oft schon an ihrem Aussehen, dass sie Rom:nja sind – und genau das führt manchmal dazu, dass bei ihnen überprüft wird, ob sie eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Eine solche Überprüfung kann sich lange hinziehen – fünf, sechs Monate. In dieser Zeit haben die Betroffenen meist keinen Zugang zu sozialen Programmen. Viele halten das nicht aus: Einige versuchen ihr Glück in einem anderen Land, andere kehren nach Transkarpatien zurück.
Ira: Um solchen Menschen zu helfen, hat Janush mit anderen den Verein AURA in Göttingen gegründet.
Janush: Wir planen mit Romn:ja zu arbeiten, die in Deutschland bleiben möchten. Denn nicht alle werden nach Hause zurückkehren, auch nach dem Ende des Krieges wird ein Teil bleiben. Wir wollen auch eine Brücke bilden zwischen Roma-Organisationen aus Europa oder Deutschland und unseren Eingewanderten. Bislang gibt es keinen Kontakt und es braucht eine Art Struktur, die das alles zusammenbringt.
Ira: Geplant sind Projekte in den Bereichen politische Bildung, Kultur, humanitäre Hilfe, Austausch und Advocacy. Die Gesellschaft für bedrohte Völker unterstützt die Arbeit von AURA gegen Antiziganismus und für die Interessen der Rom:nja. Auch die deutsche Bevölkerung kann sich engagieren. An diese hat Anzhelika am Ende unseres Gesprächs eine Botschaft.
Anzhelika: Zunächst einmal möchte ich Deutschland danken. Deutschland ist aktuell das Land, das der Ukraine am stärksten hilft – mit vielfältiger Unterstützung: durch diplomatische, humanitäre und entwicklungspolitische Maßnahmen. Meine Empfehlungen sind sehr praxisnah, denn ich arbeite in einer NGO und auch mit deutschen Stiftungen zusammen. Für uns ist es wichtig, in der Ukraine den sogenannten Nexus-Ansatz umzusetzen – also eine bessere Verknüpfung zwischen humanitärer Hilfe und langfristiger Entwicklungsförderung. Wir brauchen hier ein Gleichgewicht. Und die Hilfe darf sich nicht nur auf die Frontregionen konzentrieren. Natürlich sind diese Gebiete am stärksten betroffen – aber viele Menschen in vulnerablen Situationen sind inzwischen in die Zentral- oder Westukraine geflüchtet und brauchen auch dort dringend Unterstützung.
Ira: Deshalb lautet ihr Appell:
Anzhelika: Man sollte sich nicht nur auf eine Region fokussieren, sondern generell gefährdete Gruppen in der gesamten Ukraine in den Blick nehmen – und diese gezielt in politische Strategien und Pläne einbeziehen. Es ist wichtig, ihre Stimmen zu stärken und in ihre Bildung und ihr Führungspotenzial zu investieren. Denn wir bauen gerade eine neue Generation auf – gezeichnet vom Krieg, aber auch voller Kraft, die Zukunft der Ukraine frei, demokratisch und europäisch mitzugestalten. Dabei sollte Führung möglichst divers gedacht werden – Vertreter:innen unterschiedlicher marginalisierter Gruppen müssen Teil dieses Prozesses sein. Und natürlich: Bitte unterstützt weiterhin die Ukrainer:innen. Wir sind sehr dankbar – und ich denke, die Menschen in Deutschland sehen, wie viel uns diese Unterstützung bedeutet. Das ist meine Botschaft an die deutsche Gesellschaft: Wir sind wirklich dankbar.
Ira: Doch auch in Deutschland muss einiges passieren, damit Geflüchtete aus der Ukraine echte Gleichberechtigung erfahren. Zum Beispiel im Bereich der mitgebrachten Berufsabschlüsse, die häufig nicht anerkannt werden oder wenn Prozesse so lange dauern, dass viele währenddessen aufgeben. Wie auch bei Artúr aus Cherson.
Artur: Ursprünglich wollte ich meinen Medizinabschluss in Deutschland anerkennen lassen, um weiterhin Menschen helfen zu können – vor allem ukrainischen Roma-Migrant:innen. Doch nachdem ich mit den deutschen Behörden gesprochen hatte, wurde mir klar: Der Anerkennungsprozess würde mindestens fünf Jahre dauern – zusätzlich zum Deutschlernen, einer Sprache, die ich in der Ukraine nie gelernt hatte.
Ira: Daraufhin entschied er sich, seiner Community auf anderem Wege nützlich zu sein – indem er Politik studiert und sich auf Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit spezialisiert. Nun steht er kurz vor dem Master-Abschluss. Er möchte weiterhin helfen. Auch Laslo in Transkarpatien denkt nicht daran, seine Arbeit niederzulegen. Was motiviert ihn?
Laslo: Wahrscheinlich, weil ich so geboren wurde. Ich bin froh, dass ich helfen kann. Zu mir kommen Menschen, die tagelang kein Brot gesehen haben – wegen des Krieges. Ich verteile Mehl und alles, was ich bekomme: Kleidung aus Tschechien, Medikamente, an denen es bei uns fast immer fehlt. Wir lieben dieses Land, in dem wir leben. Deshalb kämpfen auch Männer aus meiner Familie an der Front. Einige wurden verwundet und mussten ins Krankenhaus. Sie kämpfen – obwohl wir diesen Krieg nicht wollen. Wir brauchen Frieden – Frieden, Frieden, Frieden. Wir brauchen keinen Krieg.
Ira: Was wünscht er sich für die ukrainischen Rom:nja?
Laslo: Ich wünsche ihnen, dass sie gesund sind und glücklich und dass sie einen friedlichen Himmel über dem Kopf haben. Jedem einzelnen; und dass sie lernen gehen; dass sie etwas erreichen; dass sie gerecht und ehrlich sein mögen und dass sie an Gott glauben. Möge Gott unsere Ukraine schützen!
Ira: Das Gespräch mit Laslo bleibt mir lange im Kopf. Und auch, wie vielfältig die Erfahrungen und Einschätzungen meiner Gesprächspartner:innen sind. Das Beispiel der ukrainischen Rom:nja zeigt also einmal mehr, wie plural die ukrainische Zivilgesellschaft ist und dass es sich lohnt, noch mehr über sie zu lernen. Das war „Trümmer und Träume – Zivilgesellschaft für die Ukraine“, ein Projekt der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Wenn Ihnen der Podcast gefällt, empfehlen Sie ihn weiter und hinterlassen Sie uns eine Bewertung. In den Shownotes finden Sie wie immer weiterführende Informationen und Links zu den erwähnten Organisationen. Falls noch nicht passiert: Hören Sie auch in die vorhergehenden Folgen rein, in denen es um Kulturstätten, die Bewältigung von Traumata oder die Arbeit von Jugendorganisationen in der Ukraine geht. Danke an unsere Gesprächspartner:innen und Ihnen fürs Zuhören!
Neuer Kommentar