Aus Trümmern Zukunft bauen – Ukrainische Jugendorganisationen im Krieg
Shownotes
Seit dem russischen Großangriff 2022 auf die Ukraine haben sich die Aufgaben vieler Jugendorganisationen grundlegend gewandelt – statt Bildungsarbeit stehen nun Wiederaufbau, humanitäre Hilfe, psychosoziale Unterstützung und zivilgesellschaftlicher Widerstand im Mittelpunkt. Wie lebt und arbeitet eine Jugendorganisation im Ausnahmezustand? Was motiviert junge Menschen, trotz Erschöpfung und ständiger Gefahr weiterzumachen? Und was brauchen sie von uns in Deutschland, um ihre Arbeit fortsetzen zu können?
Das Gespräch mit Akteur:innen von Eco Misto, Build Ukraine Together (BUR), und European Youth of Ukraine zeichnet ein eindrückliches Bild von Mut, Wandel und Resilienz – und ist eine Einladung zum Perspektivwechsel. Mit dabei: persönliche Einblicke von Serhiy Bezborodko, Feliks Schepel, Oleksiy Lavrinenko – sowie die Stimme von Anastasiia Pykhtina, einer jungen Ukrainerin in Deutschland zwischen Front, Exil und Hoffnung.
Weitere Links aus dieser Podcastfolge:
- EVZ-Förderprogramm JUGEND erinnert international
- Kampagne #BikesForUkraine von Eco Misto zur Förderung von Radmobilität
- Artikel über Eco Misto bei European Endowment for Democracy
- Projekt EuroTrain in Ukraine 2.0 von European Youth of Ukraine
- Dachverband der ukrainischen Jugendorganisationen NYCU
- Initiative Lviv European Youth Capital 2025
- Konferenz Lviv Media Forum 2025
- Jugendorganisation Osvita 360 aus Kyjiw
- Forschungsbericht zu den Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Jugend
Sie haben Feedback, Anregungen oder Kritik? Schreiben Sie uns an standwithukraine@stiftung-evz.de
Idee: Stiftung Erinnerung, Verantwortung, und Zukunft (EVZ)
Konzeption und Moderation: Ira Peter
Produktion: speak low, Berlin.
Transkript anzeigen
Ira: In dieser Folge werfen wir einen Blick auf junge Menschen in der Ukraine und ihr Engagement für die Zivilgesellschaft. Wie arbeitet man als Jugendorganisation in einem Land im Krieg?Was motiviert junge Menschen, weiterzumachen – trotz Sirenen, Verlust und Dauerstress?
Serhiy: Wir können die Situation nicht ändern – aber wir haben ein paar Stunden Zeit, um uns freiwillig zu engagieren. Jeden Tag reparieren wir ein neues Fahrrad – und Tschernihiw gewinnt einen weiteren Radfahrer dazu. An einem anderen Tag recyceln wir zehn Kilo Plastik – und machen aus Müll etwas Nützliches. Mein Traum ist es, dass unsere Stadt nach dem Krieg besser wird als je zuvor. Und genau das treibt uns an, weiterzumachen.
Ira: Was brauchen sie, um durchzuhalten, um gestalten zu können – auch von uns, hier in Deutschland? Und: Welche Visionen haben sie für eine demokratische, lebenswerte Ukraine nach dem Krieg?Ich habe mit jungen Menschen gesprochen, die geblieben sind, die organisieren, unterstützen, Brücken bauen – obwohl sie selbst kaum Luft zum Atmen haben. Aber auch mit einer jungen Frau, die fliehen musste – und nun aus Deutschland heraus für ihr Land weiterdenkt.
Anastasia: Ich glaube, dass man nicht immer nur große Dinge tun muss, um etwas für ein Land zu tun. Manchmal reicht es einfach seine Geschichte zu erzählen und genau das habe ich in den letzten Jahren versucht.
Ira: Lassen Sie uns eintauchen in eine Folge über gelebte Resilienz, Verantwortung und die Hoffnung einer Generation, deren Zukunft gerade auf der Weltbühne verhandelt wird.
Feliks: Wir wissen genau, dass dieser Krieg ein Angriff eines Aggressors ist, der uns in seine Einflusssphäre zwingen will. Für uns steht fest: Wir wollen kein Teil Russlands sein, wir fühlen uns nicht als Russen. Europa ist unser natürlicher Weg.
Jingle: Trümmer & Träume. Zivilgesellschaft für die Ukraine. Ein Podcast der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
Luftalarm): Luftalarm)
Ira: So klingt seit drei Jahren Tschernihiw, eine Stadt nördlich von Kyjiw und nur 80 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Beginn der Vollinvasion im Februar 2022 wird die Stadt mehrfach Ziel russischer Raketen. Zu Beginn des Aggressionskriegs wird sie massiv umkämpft und teilweise eingekesselt. Der damals 34-jährige Serhiy Bezborodko ist vor Ort.
Serhiy: Ich war in Tschernihiw. Es war eigentlich ein ganz normaler Morgen – bis um 6 Uhr mein Vater anrief. Er sagte: „Serhiy, mach dir keine Sorgen, aber der Krieg hat begonnen. Bitte komm zu uns.“ Ich war schockiert. Ich begann, nach Nachrichten zu suchen – und sah Hunderte von Meldungen: Explosionen hier, Explosionen dort. Russische Truppen rückten aus vielleicht zehn verschiedenen Richtungen vor. Nach ein paar Stunden im Schockzustand wurde mir klar: Wir sind nur 80 Kilometer von der Grenze entfernt. Ich dachte, es würde noch etwas dauern, bis sie Tschernihiw erreichen. Aber gegen 10 Uhr hörte ich den ersten Luftalarm – und sah Rauch über der Stadt aufsteigen.
Ira: Er bleibt bei seinen Eltern, bis sich die Lage beruhigt und die Stadt nicht mehr eingekesselt ist.
Serhiy: Alle waren wie in einer Schockstarre. Aber dann begann ich, meinen Freund:innen zu schreiben: Wie geht’s euch? Wo seid ihr? Was macht ihr? Nach ein paar Nachrichten hin und her war uns klar: Wir müssen etwas tun. Wir müssen irgendwie helfen – den Menschen, die unsere Stadt verteidigen, und auch den zivilen Einwohner:innen.
Ira: Was mit ein paar Nachrichten unter Freund:innen beginnt, wird schnell zu einer klaren Entscheidung: Nicht abwarten – sondern handeln. Doch Serhiys Engagement beginnt nicht erst mit dem Angriff im Februar 2022. Er leitet schon seit Jahren Ecco Miisto – eine Jugend-Organisation aus Tschernihiw. Entstanden nach dem Euromaidan 2014, setzt sich Ecco Miisto seither für Umweltschutz und eine nachhaltige Stadtentwicklung ein.
Serhiy: Vor Beginn der großflächigen Invasion konzentrierten sich unsere Aktivitäten vor allem auf Mülltrennung, Recycling und kleinere urbane Projekte – vor allem in einem Park nahe unseres Hauptstandorts.
Ira: So beschreibt er die Arbeit der NGO. Was ist seit dem russischen Großangriff anders?
Serhiy: Der Krieg hat alles verändert. Vom ersten Tag an wurde unser Hauptstandort durch Beschuss beschädigt, dann begann unsere örtliche Territorialverteidigung, ihn zu nutzen. Also haben sie ihn für uns geschlossen. Und er ist bis heute nicht mehr zugänglich.
Ira: Und doch machen sie weiter. Die Polytechnische Universität in Tschernihiw stellt Ecco Miisto Räume zur Verfügung – von dort aus nehmen sie ihre Arbeit wieder auf. Sie richten eine Mitmach-Werkstatt ein – wo nicht nur Werkzeug geteilt wird, sondern auch Zeit, Erfahrung und Ideen. Und sie entdecken bald ganz neue Felder für sich:
Serhiy: Wir haben gemerkt, dass es in Tschernihiw eine starke Fahrrad-Community gibt – also haben wir eine „Bike Kitchen“ gegründet. Ich kannte das Konzept aus Bratislava und Prag, aber wir haben es auf unsere Weise umgesetzt. Mit Werkzeug und Unterstützung aus Tschechien begannen wir, Fahrräder zu reparieren – für ukrainische Freiwillige, Sozialarbeiter:innen, medizinisches Personal und Binnenvertriebene. Daraus ist unser Projekt „Bikes for Ukraine“ entstanden. Fahrräder sind heute unglaublich nützlich, denn viele Brücken und Straßen in Tschernihiw sind noch immer zerstört, genauso wie zahlreiche Autos. Auch der öffentliche Nahverkehr funktioniert nur eingeschränkt – viele Trolleybus-Linien sind nach wie vor nicht repariert.
Ira: Mittlerweile hat Eco Misto über 1.000 Fahrräder repariert und kostenlos an die Bevölkerung ausgegeben. Außerdem verleihen sie Lastenräder für größere Transporte und organisieren regelmäßig Rad-Events, um weiterhin Menschen für umweltfreundliche Mobilität zu begeistern.
Serhiy: Heute ist es auch unser strategisches Ziel, nachhaltige Mobilität auszubauen. Denn Radfahren ist einfach der bessere Weg, um sich in der Stadt fortzubewegen. Wir haben Partner, wir haben Ideen – und wir wollen unsere Stadt besser machen, selbst im Krieg.
Ira: Wie Serhiy engagieren sich viele junge Menschen in der Ukraine aktiv für ihre Gemeinschaft. Schon vor dem Krieg beteiligten sich etwa 12 % der Jugendlichen regelmäßig – rund ein Drittel unterstützte zivilgesellschaftliche Projekte. Seit der russischen Invasion ist dieses Engagement deutlich gewachsen: Junge Menschen helfen bei humanitärer Versorgung, Bildungs- und Wiederaufbauprojekten oder leisten psychologische Unterstützung. Sie gestalten aktiv die Zukunft ihres Landes mit. Das bestätigt auch Oleksiy Lavrinenko von der Jugendorganisation Building Ukraine Together, kurz BUR – besonders in den letzten drei Jahren hat sie Zulauf erhalten.
Oleksij: Tatsächlich kamen Menschen zu uns, die zuvor nichts mit unserer Freiwilligenarbeit zu tun hatten – sie hatten einfach das Bedürfnis, in dieser unsicheren Zeit etwas beizutragen. Viele standen im Berufsleben, wollten aber helfen. Also kamen sie, wie auch zu anderen Organisationen, und fragten: Kann ich etwas tun? Ich kann mit dem Computer umgehen, ich möchte dies oder das tun – und so wuchs ihre Rolle Schritt für Schritt.
Ira: BUR wurde ebenso wie Eco Misto 2014 im Zuge der “Revolution der Würde” gegründet und ist heute in der ganzen Ukraine aktiv. Die NGO aus Kyjiw organisierte Freiwilligencamps, in denen Jugendliche zum Beispiel gemeinsam mit betroffenen Familien Häuser renovierten. Dann kam der Februar 2022.
Oleksij: Die Arbeit von BUR hat sich zunächst stark gewandelt: Für einige Monate rückte die klassische Jugendarbeit in den Hintergrund. Statt auf Freiwilligenarbeit und non-formale Bildung zu setzen, konzentrierte sich das Team auf humanitäre Hilfe, die Unterstützung der Armee und darauf, in ihrem Umfeld sowie bei Partnerorganisationen schnelle und konkrete Hilfe zu mobilisieren.
Ira: Nach zwei Monaten kehrten sie zur eigentlichen Arbeit zurück, dem Wiederaufbau.
Oleksiy: Es sind vor allem junge Menschen, die ganz konkret mit anpacken und den Wiederaufbau der Ukraine mitgestalten. BUR lädt dazu ein, an Freiwilligencamps in verschiedenen Gemeinden teilzunehmen – mal näher an der Frontlinie, mal in kleinen, oft übersehenen Orten im Herzen der Ukraine. Gemeinsam mit den Menschen vor Ort entstehen dort genau die Dinge, die die jeweilige Gemeinde wirklich braucht – und das mit den eigenen Händen.
Ira: Bevor sich der 34-jährige Oleksiy bei BUR engagierte, hatte er bereits als Freiwilliger viel Erfahrung beim Renovieren gesammelt – in Deutschland, Polen oder den Niederlanden. Schon sieben Jahren hilft er nun in der Ukraine mit. Seit der Vollinvasion ist vieles wie früher, und doch ganz anders. Manchmal geht es nicht nur um zerstörte Häuser, sondern auch um verletzte Körper.
Oleksiy: Hier zwei Beispiele, die in den Diskussionen immer wieder auftauchen: Durch den Krieg werden viele Menschen weniger mobil – sie leben mit Behinderungen, etwa nach Verletzungen. Deshalb lernen viele jetzt, wie man Durchgänge und Gebäude barrierefrei gestaltet – nicht nur für gesunde Menschen, sondern auch für Menschen im Rollstuhl oder mit Sehbehinderung. Und auch das zweite Thema wird immer wichtiger: dezentrale Energieversorgung. Früher hat kaum jemand darüber nachgedacht, wie man Häuser autonomer machen kann. Heute diskutieren junge Menschen über Solarenergie, Batterien und andere Wege, sich unabhängiger zu machen – nicht nur im eigenen Haushalt, sondern auch als Gesellschaft. Denn jede zerstörte Stromleitung durch den Feind zeigt, wie wichtig Energiesouveränität geworden ist.
Ira: BUR und andere Jugendorganisationen in der Ukraine sind inklusiver, politischer und umweltbewusster geworden. Sie verknüpfen den Wiederaufbau mit Demokratie, Gemeinschaft und dem klaren Ziel der Unabhängigkeit. Junge Menschen fordern eine gerechte und nachhaltige Erneuerung ihres Landes. Serhiy und Oleksij beobachten: Die neue Generation hat ihre Besonderheiten.
Oleksiy: Junge Menschen sind mit sehr unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Ich würde sagen, dass eines der größten Probleme nach wie vor Bildungslücken sind, weil junge Menschen jahrelang nicht richtig lernen konnten, Wissen und Kompetenzen nicht richtig erwerben konnten.
Ira: Denn zunächst waren Kinder und Jugendliche durch Corona oft isoliert, hatten Unterricht nur vor dem Bildschirm zu Hause und kaum soziale Kontakte. Bald darauf begann die Vollinvasion. Auch Serhiy kennt Herausforderungen mit den Jüngeren.
Serhiy: Wenn wir über das Team von Eco Misto sprechen: Wir arbeiten mit jungen Menschen ab der 10. oder 11. Klasse bis hin zum Studierendenalter. Die Corona-Jahre und auch der Krieg haben diese Generation stark verändert. Es ist schwer zu beschreiben, aber wir merken, dass junge Leute heute weniger verbunden sind – zumindest im direkten, persönlichen Kontakt. Viele haben Jahre im Online-Unterricht verbracht, in der Ukraine läuft die Bildung nun schon im vierten Jahr fast ausschließlich digital. Eine der wichtigsten Aufgaben ist deshalb nicht mehr nur, ihnen etwas beizubringen – sondern sie überhaupt wieder daran zu gewöhnen, miteinander zu sprechen, einander zuzuhören.
Ira: Der wenige Kontakt von Heranwachsenden zu anderen Menschen hat gravierende Folgen - weiß Oleksiy zu berichten. War er mir erzählt, schockiert mich.
Oleksij: Man sieht, dass die Informationsflut zunehmend intensiver und gefährlicher wird. Was früher noch harmlos wirkte, hat heute eine neue Dimension erreicht: Junge Menschen werden inzwischen gezielt online angeworben – etwa über Telegram – und gegen Bezahlung für Sabotageakte an Streitkräften rekrutiert. Das ist eine ernstzunehmende Entwicklung und eine ganze Reihe an Problemen.
Ira: Oleksiy erzählt mir von Kindern, die durch selbstgebaute Sprengsätze verletzt oder getötet wurden. Das zeigt, wie skrupellos das russische Regime agiert. Umso wichtiger ist die Arbeit von Organisationen wie European Youth of Ukraine mit Sitz in Kyjiw, kurz EYU: Der 25-jährige Feliks Schepel ist ihr Vorstand und berichtet, wie sie Jugendliche ukraineweit politisch, sozial und emotional mit Bildungsprojekten stärken.
Feliks: Unsere Mission ist es, junge Menschen über Themen wie europäische Integration und liberale Werte aufzuklären – und ihnen sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft aufzuzeigen. Unser Leitspruch lautet: Ukraine in der EU. Wir sehen darin auch eine Art Rückkehr – denn historisch war die Ukraine bereits Teil Europas. Ein zentrales Projekt, das sich diesem Ziel widmet, ist der Eurotrain. Dabei reisen wir in drei verschiedene Städte in der Ukraine und führen jeweils kompakte Veranstaltungen durch – zu gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten der europäischen Integration. Denn wir verstehen: Europäische Integration ist ein vielschichtiger, menschlicher Prozess. Wir suchen nach Wegen, wie die Ukrainer:innen – insbesondere die Zivilgesellschaft und die Jugend – das Land näher an die EU heranführen können. Gleichzeitig möchten wir den Menschen in Europa zeigen: Die Ukrainer:innen sind ein Teil der europäischen Familie.
Ira: Bei den Gesprächen mit Feliks, Serhiy und Oleksiy bin ich sehr beeindruckt, wie sie das teilweise neben ihren eigentlichen Jobs schaffen, sich und andere immer wieder für ehrenamtliche Arbeit zu motivieren. Arbeit, die jeden Tag wieder zerstört werden kann. Werden sie nicht langsam müde?
Serhiy: Das dritte Jahr des Krieges hat uns vollkommen verändert – unsere Mentalität, unsere Gesundheit. Es ist schwer, ein normales Leben zu führen oder überhaupt in den Tag zu leben, ohne zu wissen, was morgen sein wird. Wir sind im Krieg. Tschernihiw liegt weiterhin nah an der Grenze, täglich ertönen Luftalarme – ständig. Wir hören Beschuss, Explosionen. Die Menschen sind müde. Es ist unmöglich, jahrelang ohne Pause Freiwilligenarbeit zu leisten. Man wird erschöpft. Man brennt aus.
Ira: Neben der ständigen Bedrohung durch Raketenangriffe kämpfen viele Aktivist:innen auch mit ganz alltäglichen Herausforderungen – zum Beispiel, wie sie ihre Projekte überhaupt finanzieren können. Seitdem die Förderung durch USAID für manche ausgelaufen ist, wird es deutlich schwieriger, Vorhaben umzusetzen oder neue Projekte zu planen. Immer wieder müssen neue Partner gefunden werden – eine zusätzliche Belastung im ohnehin kräftezehrenden Arbeitsalltag, so Feliks von EYU.
Feliks: Ehrlich gesagt sind viele Ukrainer:innen derzeit sehr niedergeschlagen. Es ist nicht leicht, ihnen Mut zu machen und zu erklären, dass nicht alles verloren ist. Aber wir versuchen, ein Beispiel zu sein – dafür, dass man sich von einem Aggressor nicht unterdrücken lässt. Dieser Krieg ist auch ein Kampf für Demokratie, für europäische Werte und für die Freiheit selbst. Und genau das motiviert uns – es gibt uns die Kraft, durchzuhalten, ganz gleich, wie lange diese Situation noch andauert.
Ira: Der Krieg ist nicht nur militärisch, sondern auch psychisch eine enorme Belastung – besonders für junge Menschen. Viele kämpfen mit Angst, Erschöpfung und Einsamkeit. Jugendorganisationen wie Osvita 360 aus Kyjiw unterstützen gezielt mit psychosozialer Begleitung, Workshops und Gesprächen für Vertriebene. Sie zeigen: Auch mentale Erholung gehört zum Wiederaufbau. Besonders auf dem Land stärken Jugendzentren und Kulturprojekte den sozialen Zusammenhalt – ein leiser, aber kraftvoller Teil des Widerstands. Doch was gibt den Engagierten selbst die Kraft, weiterzumachen?
Feliks: Die Antwort ist eigentlich ganz klar: Wir haben keine andere Wahl. Es ist gerade keine Zeit, um zu weinen. Wir wissen genau, dass dieser Krieg ein Angriff eines Aggressors ist, der uns in seine Einflusssphäre zwingen will. Und wir vergessen nicht: Der Krieg hat nicht erst vor drei Jahren begonnen, sondern 2014 – als die ukrainische Gesellschaft sich klar für Europa entschieden hat. Was wir jetzt erleben, ist nur ein weiteres Kapitel dieses Krieges. Für uns steht fest: Wir wollen kein Teil Russlands sein, wir fühlen uns nicht als Russen. Europa ist unser natürlicher Weg.
Ira: Wer heute Mitte 20 ist, war als der Krieg im Osten der Ukraine begann, gerade einmal 14 – eine ganze Generation ist mit dem Krieg erwachsen geworden. Resignation ist für viele trotzdem keine Option. Sich hinzusetzen und verzweifeln, kommt auch für Serhiy aus Tschernihiw nicht in Frage.
Serhiy: Wir können die Situation nicht ändern – aber wir haben ein paar Stunden Zeit, um uns freiwillig zu engagieren. Ein paar Stunden, um Bäume zu pflanzen, Plastik zu recyceln. Und wir versuchen, unsere Mission fortzusetzen. Vieles machen wir dabei ehrenamtlich – für unsere Freund:innen, die sich den Verteidigungskräften angeschlossen haben. Viele von ihnen wurden mobilisiert. Wir versuchen zu helfen, wo wir können: mit Spenden, mit Generatoren, mit Powerbanks – einfach mit dem, was gebraucht wird.
Ira: Was Feliks und Serhiy erzählen, macht deutlich: Viele junge Menschen in der Ukraine halten durch, helfen, gestalten mit – ob an der Front oder im Alltag. Mit ihrem Engagement beim Wiederaufbau sie sind aber eher die Ausnahme. In einer Anfang 2025 veröffentlichen Studie des “United Nations Development Programme Ukraine” in Zusammenarbeit mit dem “Ministerium für Jugend und Sport der Ukraine” gaben 2023 nur 1 % der Befragten an, bereits aktiv am Wiederaufbau teilzunehmen. 2024 sank dieser Wert auf 0,4 %. Auch die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme verkleinerte sich von 72 % im Jahr 2023 auf 59 im Jahr 2024. Daraus lässt sich eine Erschöpfung ableiten. Zwischen den Geschlechtern oder Altersgruppen gab es da keine Unterschiede. Es wird also auch langfristig auf Menschen wie Feliks, Serhij und Oleksi ankommen.
Serhiy: Ich persönlich sehe es als mein persönliches Ziel an, nützlich zu sein. Ich habe mir selbst viele Fragen gestellt, ob ich der Armee beitreten sollte oder nicht, und viele meiner Freunde rieten mir davon ab, wegen der Bürokratie. Und wegen meines Charakters. Ich bin Aktivist. Ich versuche, alles zu ändern. Ich versuche, alles besser zu machen. Sie erklärten mir, dass das in der Armee so nicht funktionieren würde. Sie empfehlen mir, nicht beizutreten, sondern dieselbe Person zu bleiben, die sie dazu motiviert, von einer besseren Stadt zu träumen.
Ira: Serhiy bleibt vorerst neben seinem Amt als Leiter von Ecco Miisto an der Uni beschäftigt. Manche sind aber an der Front oder leben wie Feliks mit der Gewissheit, dass sie jeden Tag eingezogen werden könnten. Ein Blick auf die Geschlechterverteilung zeigt: Während viele Männer im Land geblieben sind und sich im zivilen oder militärischen Bereich engagieren, sind junge Frauen in der Ukraine zwar ähnlich aktiv, jedoch deutlich seltener an der Front. Viele junge Ukrainer:innen mussten auch fliehen – ihr Studium abbrechen, ihre Familien zurücklassen. Was das bedeutet, darüber spreche ich jetzt mit Anastasia Pychtina. Dieses Gespräch ist übrigens ein kleines Novum in unserem Podcast: Es wurde nicht per Ferninterview aufgezeichnet, sondern im Studio unserer Produktionsfirma speak low in Berlin.
Ira: Hallo Anastasia, wir haben uns 2021 kennengelernt, da war ich Stadtschreiberin in Odesa. Du warst damals noch Schülerin und hast an einem Medienworkshop von mir teilgenommen. Kurz darauf hat sich deine Lebenssituation völlig verändert. Was hast du getan, nachdem Russland am 24.2.2022 die gesamte Ukraine angegriffen hat?
Anastasia: Natürlich war ich erstmal schockiert und ich konnte es nicht glauben, weil, ich konnte es mir nicht vorstellen, dass ich eines Tages aufwache und in meinem Land herrscht Krieg. Ich wusste auch nicht, was ich machen soll, und meine Familie wusste nicht, was wir machen sollen. Ob wir ins Ausland fahren sollen oder bleiben. Meine Mutter sagte erstmal, dass es vielleicht eine Woche dauert oder ein paar Tage und deswegen blieben wir. Aber danach hat meine Mutter entschieden, dass ich trotzdem gehen muss.
Ira: Ganz allein? Sie hat dich allein dann Richtung Deutschland geschickt?
Anastasia: Ja, weil ich in Deutschland studieren wollte und sie hatte Angst, dass ich vielleicht dann nicht mehr nach Deutschland fahren kann. Deswegen hat sie diese Entscheidung getroffen.
Ira: Und dann bist du mit einem Rucksack auf dem Rücken los zum Bahnhof in Odesa und bist in einen Zug gestiegen, ganz allein.
Anastasia: Ja ganz allein. Und das tut auch unendlich weh, weil, du sitzt im Zug und du weißt nicht, ob du deine Mutter, deine Schwester irgendwann noch wiedersiehst. Weil, es ist Krieg und niemand weiß, was morgen passiert. Ob man morgen aufwacht. Das war sehr schwer und ich wusste auch nicht, wohin ich fahre. Erstmal nahm ich den Zug nach Lwiw. Und als ich im Zug war, habe ich einer der ersten Personen geschrieben, die mir sofort einfiel, meiner Deutschlehrerin. Ich wusste, wenn irgendjemand mir helfen könnte, dann sie. Und tatsächlich, sie hat alles sofort in Bewegung gesetzt. Über eine ihrer ehemaligen Schülerinnen hat sie eine Familie gefunden, die bereit war, mich aufzunehmen.
Ira: Du warst damals gerade erst 17 geworden. Wie bist du denn dann in Deutschland aufgenommen worden? Nach einigen Tagen der Zugfahrt, der Ungewissheit, bist du dann in Berlin angekommen. Wie ging es für dich weiter?
Anastasia: Nach vier langen Tagen voller unzähliger Hindernisse und überfüllter Züge bin ich in Berlin angekommen. Und ich bin dieser Familie, die mich aufgenommen hat, sehr dankbar. Ich kann es nicht in Worte fassen, wie dankbar ich dafür bin. Obwohl sie mich nicht kannten, haben sie mir ihr Zuhause geöffnet und sie haben mir ein Dach über dem Kopf gegeben, aber nicht nur ein Dach sondern auch ein Gefühl von Geborgenheit und ich hatte das Gefühl, ich bin nicht allein. Es gab viele Menschen, die mir am Anfang geholfen haben. Sie haben mir Geld gegeben, Kleidung. Ich habe ganz viele Deutsche kennengelernt, die einfach ihr Herz geöffnet haben und einfach die Ukrainer und Ukrainerinnen unterstützen wollten. Und ich bin unendlich dankbar. Und später wurde noch das Jugendamt eingeschaltet, weil ich ja minderjährig war. Um dann auch meinen Aufenthalt rechtlich zu regeln.
Anastasia: Und dann hast du von hier aus noch deinen Abschluss in der Ukraine gemacht, also Onlineunterricht, und komplett deinen Abschluss in der Tasche dann gehabt. Und hast angefangen, in Frankfurt (Oder) zu studieren, richtig? Wie war das für dich?
Anastasia: Ehrlich gesagt war das schon immer mein Traum, in Deutschland zu studieren. Und natürlich habe ich mich gefreut, dass ich in Deutschland studieren darf, aber es war anders, als ich mir vorgestallt hatte. Weil, ich dachte, ich fliege dann einfach nach Berlin und beginne mein Studium. Das Leben hat es aber ein bisschen anders gemacht.
Ira: Und du hast auch selbst dich engagiert. Du konntest ja schon deutsch, als du hergekommen bist. Du warst nämlich in Odesa an der Schule Nr. 90, das ist eine Schule mit Schwerpunkt Deutsch. Das heißt, du hast auch selbst hier beim Übersetzen geholfen, auf Ämtern.
Anastasia: Ja, es war mir wichtig zu helfen. Und ich hatte damals das Gefühl, dass wenn ich etwas Nützliches machen darf, dann mache ich es sehr gerne.
Ira: In der Ukraine warst du Schülersprecherin und Teil des Jugendparlaments in Odesa – wie engagierst du dich von Deutschland aus für die Ukraine?
Anastasia: Ich glaube, dass man nicht immer nur große Dinge tun muss, um etwas für sein Land zu tun. Manchmal reicht es einfach, seine Geschichte zu erzählen, offen zu sein, anderen Einblick in die Realität zu geben. Und genau das habe ich in den letzten Jahren versucht. Zum Beispiel habe ich im Jahr 2022, kurz nach meiner Ankunft in Deutschland, einen Workshop geleitet. Das Thema war „Was kann ich als Jugendlicher tun, um die Menschen in der Ukraine zu unterstützen.“ Und da habe ich auch meine persönliche Geschichte erzählt. Ich habe auch darüber erzählt, was wir durchmachen, und danach haben wir zusammen mit den deutschen Jugendlichen Projekte gemacht, wie man helfen kann. Die Teilnehmenden waren sehr engagiert und das war ein starkes Gefühl, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen.
Ira: Du hast also viele schöne Begegnungen in Deutschland gehabt, engagierst dich von Deutschland aus für deine Heimat Ukraine. Gab es denn auch Momente, wo du nicht so schöne Begegnungen mit Menschen hattest?
Anastasia: Natürlich. In drei Jahren in Deutschland habe ich unterschiedliche Menschen getroffen. Ich lebe in Frankfurt (Oder), einer Stadt, die früher zur DDR gehörte und eine ganz besondere Geschichte hat. Hier leben auch viele Menschen mit russischem Hintergrund und leider spürt man manchmal diese Feindseligkeit gegenüber Ukrainer:innen. So finden zum Beispiel jeden Montag bei uns Demonstrationen statt, allerdings nicht für den Frieden, sondern ausgerechnet zur Unterstützung Russlands. Und das war erstmal schwer für mich.
Ira: Das muss sich richtig hart anfühlen, wenn man aus der Ukraine kommt, wo der Krieg einem das ganze Leben geraubt hat und so viel Leid anrichtet täglich, dann solche Demos zu sehen. Wie gehst du damit um?
Anastasia: Ich reagiere überhaupt nicht darauf. Weil ich verstehe, ich kann diesen Menschen meine Position nicht erklären. Aber natürlich kann nich es nicht verstehen, wie die Menschen dafür sein können, dass ein Land ein anderes Land angreift. Weil, ich sehe nur die Nachteile.
Ira: Hast du das Gefühl, dass der Krieg dir persönlich bestimmte Dinge geraubt hast, von denen du geträumt hast?
Anastasia: Als der Krieg begann, war ich im letzten Schuljahr in der elften Klasse und ich kann mich noch daran erinnern, wie ich elf Jahre zur Schule gegangen bin und die älteren Schüler:innen beobachtet habe, wie sie ihren Abschlusswalzer tanzten, wie sie Ballons in den Himmel steigen ließen und ich habe auch immer davon geträumt, sowas auch mal erleben zu dürfen. Als es dann noch ein halbes Jahr bis zum Abschluss war, habe ich mit meiner Mutter angefangen nach Kleidern zu suchen. Alles schien so nah und dann kam plötzlich der Krieg und hat alles verändert. Der Krieg hat mir aber nicht nur den Abschluss geraubt, er hat mir auch noch die Zeit mit meiner Familie geraubt, mit meinem Verwandten. Vor kurzem ist meine Großmutter gestorben und wegen des Kriegs konnte ich nicht mal zur Beerdigung fahren. Und das tut mir sehr weh, weil, ich hätte natürlich sehr gern viel mehr Zeit mit ihr verbracht und das konnte ich nicht wegen des Kriegs. Und natürlich hat der Krieg noch viel mehr zerstört. Viele meiner Freunde und Bekannte, junge Männer in meinem Alter, die gerade einmal 20 Jahre alt sind, sind gestorben, weil sie versuchten, ihr Land zu verteidigen und das tut sehr weh, wenn jemand, dessen Leben erst angefangen hat, nicht mehr da ist.
Ira: Ja, das tut mir alles sehr sehr leid. Anastasia, Was wünschst du dir von Menschen in Deutschland in Bezug auf die Ukraine?
Anastasia: Ich wünsche mir von den Menschen in Deutschland manchmal einfach ein bisschen mehr Mitgefühl und Verständnis für die Ukrainer:innen. Ich verstehe, dass es manchmal schwer zu verstehen ist; etwas, das man nicht selbst erlebt hat. Und die Menschen können sich nicht wirklich vorstellen, wie es ist, von einem Tag auf den anderen alles zu verlieren. Sein Zuhause, seine Familie, seine Freunde und gezwungen zu sein, in einem fremden Land bei Null anzufangen. Viele Menschen aus der Ukraine wollten nie weg und sie hatten ein ganz normales Leben, ein Zuhause, Pläne, Träume. Und plötzlich mussten sie alles hinter sich lassen, ohne zu wissen, ob sie jemals zurückkehren können. Und in ein Land zu ziehen, dessen Sprache man nicht kann, weil es fremd ist, das ist unheimlich schwer. Und ich wünsche einfach, dass man uns manchmal ein bisschen freundlicher begegnet, weil wir alle nicht nur Geflüchtete sind, sondern wir sind einfach normale Menschen mit Träumen, mit Ängsten und Hoffnungen. Und gleichzeitig wünsche ich mir auch, dass wir Ukrainerinnen in Deutschland unsere Stimme nicht verlieren, dass wir weiter über die Ukraine sprechen, unsere Geschichte erzählen und uns auch gegenseitig unterstützen und auch den Menschen hier erklären, was gerade passiert. Denn nur so kann ein echtes Verständnis entstehen.
Ira: Und das hast du eben in diesem Podcast getan, vielen Dank Anastasia.
Anastasia: Sehr gerne. Ich freue mich, etwas Gutes machen zu dürfen.
Ira: Liebe Anastasia, vielen Dank, dass du die Ukraine in unserem Podcast hörbar machst und alles Gute für dich und deine Familie weiterhin.
Anastasia: Vielen Dank für die Einladung. Ich habe mich sehr gefreut, heute hier zu sein. Und vielen Dank noch mal, dass ihr über die Ukraine sprecht, dass ihr den Krieg nicht vergesst
Ira: Was Nastja erzählt, steht exemplarisch für viele junge Ukrainer:innen, die ihr Zuhause verlassen und sich in einem völlig neuen Umfeld zurechtfinden müssen. Gleichzeitig zeigt ihr Weg auch: Engagement und Bildung gehen weiter – nur unter ganz anderen Bedingungen. Und genau da schließt sich der Kreis zu Serhiy, Feliks und Oleksey. Um all das zu bewältigen, braucht es mehr als Mut – nämlich Austausch, Stipendien und starke Partnerschaften, auch international. Denn die Jugendorganisationen in der Ukraine leisten Enormes, doch ohne Unterstützung von außen stoßen sie an Grenzen. Eco Misto zum Beispiel erhielt vor einiger Zeit eine Förderung von der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und wird derzeit von „European endowment for Democracy“ unterstützt. Was vor Jahren als Gruppe junger Menschen begann, die Müll sammelten, ist heute ein „Startup- und Innovationszentrum“. Auch EYU arbeitet mit Partnern aus dem Ausland zusammen.
Feliks: Wir haben in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung ein Medienforum veranstaltet, bei dem wir auch einem internationalen Publikum die russische Propaganda und Fake News erklären und zeigen wollten, wie man digitale Tools nutzen kann, um mehr zu erfahren und Wege zu finden, der Propaganda entgegenzuwirken.
Ira: Auch beim Thema Zusammenarbeit mit internationalen Partnerorganisationen betont Oleksjy, wie wichtig ihm eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist.
Oleksiy: Wir bieten unser Fachwissen und unsere Erfahrung an und sagen: Wir wissen das, wir wissen jenes, wir können dies und das machen. Lassen Sie uns gemeinsam einen Mehrwert schaffen, der für Sie, als Partner, und für uns nützlich und wichtig ist. Mit anderen Worten, wir lernen, in den Geschichten der Kooperation, Interaktion und Zusammenarbeit, an denen wir beteiligt sind, selbstbestimmter zu sein. So wünsche ich mir die Ukraine für die Zukunft.
Ira: Welche Form der Unterstützung brauchen diese Organisationen derzeit?
Oleksiy: Wenn wir über die gesamtukrainische Ebene sprechen, ohne Bezug auf Bildung oder die Arbeit unserer Organisation für die Ukraine, dann braucht die Ukraine Waffen, um sich zu verteidigen.
Ira: Feliks betont, dass es im Eigeninteresse Deutschlands sein sollte, die Ukraine weiterhin zu unterstützen.
Feliks: Ihr solltet euch immer wieder bewusst machen: Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, kann so etwas auch in eurem Land passieren. Das ist keine Drohung, sondern eine Warnung. Man muss sich auf alles vorbereiten – nicht nur in Jahrhunderten, sondern vielleicht schon in den kommenden Jahrzehnten. Wir sind überzeugt, dass Russland nicht nur gegen uns Krieg führt. Ohne Krieg würde dieses Regime wirtschaftlich nicht überleben – es hängt stark von der Waffenindustrie und militärischer Macht ab. Deshalb glauben wir: Sie bereiten sich nicht nur auf einen Krieg mit der Ukraine vor, sondern mit ganz Europa. Vergesst bitte nicht die Opfer dieses Krieges und, deutsche Leute, vergesst nicht, was hier gerade passiert.
Ira: Auch Serhiy möchte am Ende unseres Gesprächs eine Botschaft an Deutschland loswerden.
Serhiy: Unterstützt die Ukraine! Organisiert weiterhin Demonstrationen gegen Russland – denn auch wenn es weltweit viele Krisen gibt, darf nicht vergessen werden: Der Krieg in der Ukraine dauert noch immer an.
Ira: Organisationen wie BUR oder Eco Misto stärken nicht nur die Demokratie vor Ort, sondern sorgen durch ihren Austausch mit internationalen Partnern dafür, dass ihre Stimmen auch über die Ukraine hinaus Gehör finden. Auch Dachverbände wie der “National Youth Council of Ukraine” tragen zur wachsenden Sichtbarkeit der Jugendbewegung bei – nicht zuletzt durch die Ernennung von Lviv zur Europäische Jugendhauptstadt 2025. Das Programm stellt junge Menschen in den Mittelpunkt politischer, kultureller und gesellschaftlicher Prozesse – mit dem Ziel, Partizipation zu fördern, neue Räume für Engagement zu schaffen und Lviv europaweit als Ort aktiver Jugendbeteiligung sichtbar zu machen. Und wie sehen meine Gesprächspartner die Zukunft?
Feliks: Ich denke an das Sprichwort: Das Licht wird über die Dunkelheit siegen. Wir glauben fest daran, dass Russland die Geschichte nicht zurückdrehen kann – die Zeit der großen Imperien ist vorbei. Wir sind sehr dankbar, dass wir nicht allein sind. Eure Unterstützung hilft uns, weiterzumachen – und nicht aufzugeben. Wir glauben fest daran, dass es die Ukraine weiterhin geben wird – und wenn alles gut läuft, wird sie vielleicht in fünf bis sieben Jahren Mitglied der EU. Unser Einsatz – auch im Kampf gegen Russland – ist damit aber noch lange nicht vorbei. Denn europäische Werte zu fördern ist ein langfristiger Prozess. Wir möchten unser Wissen, unsere Erfahrungen und unsere Fähigkeiten an die nächste Generation junger Ukrainer:innen weitergeben. Eine proeuropäische, ukrainische Zivilgesellschaft betrifft nicht nur unsere Generation – sondern auch die, die nach uns kommt. Sie wird unseren Weg weitergehen und aus dieser schwierigen Zeit lernen.
Ira: Zwischen der großen Vision einer europäischen Zukunft und dem praktischen Alltag vor Ort liegt der Raum, in dem Wandel entsteht. Während Organisationen wie EYU auf politischer und bildungsbezogener Ebene für die Zukunft der Ukraine in Europa arbeiten, entsteht in Städten wie Tschernihiw täglich Neues – oft leise, aber mit spürbarer Wirkung.
Serhiy: Jeden Tag reparieren wir ein neues Fahrrad – und Tschernihiw gewinnt einen weiteren Radfahrer dazu. An einem anderen Tag recyceln wir zehn Kilo Plastik – und machen aus Müll etwas Nützliches. Diese kleinen Veränderungen motivieren mich. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie viel Unterstützung, Engagement und neue Initiativen es in Tschernihiw gibt – gerade jetzt, im Krieg. Natürlich ist Krieg etwas Furchtbares: Viele Menschen sind gestorben, auch Freunde von mir, viele Häuser wurden zerstört. Aber mein Traum ist es, dass unsere Stadt nach dem Krieg besser wird als je zuvor. Und genau das treibt uns an, weiterzumachen.
Ira: Das war die dritte Folge von „Trümmer & Träume – Zivilgesellschaft für die Ukraine“. Wenn sie Ihnen gefallen hat, teilen Sie sie und hinterlassen Sie uns eine Bewertung. In den Shownotes finden sich wie immer weiterführende Informationen und Links zu den erwähnten Organisationen. Danke an unsere Gesprächspartner:innen und Ihnen fürs Zuhören! In der nächsten Folge werfen wir einen Blick auf Gruppen, die auch im Krieg oft übersehen werden: Es geht um Romnja und andere marginalisierte Gemeinschaften in der Ukraine – und darum, wie sie für Sichtbarkeit, Teilhabe und Gerechtigkeit kämpfen, gerade jetzt.
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