Museen unter Beschuss – Wie die Ukraine ihr kulturelles Erbe verteidigt

Shownotes

In seinem Angriffskrieg zielt Russland nicht nur auf die Infrastruktur der Ukraine, sondern greift auch Kirchen, Museen und historische Stätten gezielt an. Welche Strategie steckt dahinter? Und was sind die Folgen für diejenigen, die sich – vor Ort und im Ausland – für den Erhalt der Kultur einsetzen?

Diese Episode von „Trümmer & Träume“ lässt außergewöhnliche Menschen zu Wort kommen – darunter Halina Bednarczyk, die bereit ist, ihr Heimatmuseum selbst unter Lebensgefahr zu schützen, und Mykola Kuschnir, der mit unermüdlichem Engagement das jüdische Museum in Tscherniwzi trotz widrigster Umstände am Leben erhält. Expert:innen aus Kultur und Wissenschaft, darunter Milena Tschorna von der ukrainischen Museumsvereinigung, Forscherin Dr. Alina Mozolevska und Dr. Jörg Morré vom Museum Berlin-Karlshorst, erklären, warum Kultur in diesem Krieg eine so zentrale Rolle spielt.

Weitere Informationen zum Podcast und den einzelnen Folgen finden Sie hier: https://www.stiftung-evz.de/truemmerundtraeume

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Idee: Stiftung Erinnerung, Verantwortung, und Zukunft (EVZ)

Konzeption und Moderation: Ira Peter

Produktion: speak low, Berlin.

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Intro: In Odessa wurde auch die Altstadt getroffen. Die vereinten Nationen haben die russischen Raketenangriffe auf die orthodoxe Kathedrale scharf verurteilt. Und wir schauen nach Odessa. Die Verklärungskirche, eine russisch-orthodoxe Kirche. Bei den Angriffen kam mindestens ein Mensch ums Leben und 22 erlitten Verletzungen. Die Aufräumarbeiten laufen, man versucht, zu retten was zu retten ist.

Ira: Russland greift immer wieder gezielt Kirchen, Museen und historische Stätten in der Ukraine an. Auf den ersten Blick scheinen diese Orte weniger strategisch wichtig als Kraftwerke oder Brücken. Was hat Russland von der Zerstörung des kulturellen Erbes der Ukraine? Warum sind auf der anderen Seite Ukrainerinnen wie Halina Bednarczyk bereit, ein Museum sogar mit ihrem Leben zu verteidigen? Und was hat ihr Kampf um Narrative mit uns und unserem Blick auf die Ukraine zu tun?

Halina: Ich hätte schlimme Gewissensbisse, wenn ich die Mitarbeitenden des Museums und unsere Sammlung im Stich lassen würde.

Ira: In der ersten Folge von „Trümmer & Träume“, dem Podcast der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, beleuchten wir die Hintergründe.

Alina: Die russische Regierung, das Regime und die Armee, versuchen das ukrainische Kulturerbe zu zerstören, um die Behauptung zu beweisen, dass die Ukraine nicht existiert. Die Ukraine als Nation existiere nicht. Das ist vielleicht die einfachste Erklärung dafür, warum Kultur in diesem Krieg wichtig ist.

Ira: Expert:innen erklären, warum die Kunst und Kultur der Ukraine mehr sind als bloße Erinnerungsstücke – sie sind die Pfeiler der ukrainischen Identität und ein Symbol des Widerstands.

Jingle: Trümmer & Träume. Zivilgesellschaft für die Ukraine. Ein Podcast der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft

Ira: Ich bin Ira Peter. Ich bin freie Journalistin und erkunde in diesem Podcast die ukrainische Zivilgesellschaft. Warum? Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft engagiert sich seit 25 Jahren für, mit und in der Ukraine. Drei Jahre nach Beginn der russischen Vollinvasion bleibt das Land im Zentrum ihrer Arbeit: Sie unterstützt Überlebende der NS-Verfolgung und fördert zivilgesellschaftliche Initiativen. Mit Projekten wie diesem Podcast setzt die Stiftung ein klares Zeichen gegen den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands. Es ist der frühe Morgen des 24. Februar 2022. Die Straßen der ukrainischen Stadt Czernivtsi liegen noch im Dunkeln. Ein Anruf reißt Mykola Kuschnir und seine Frau aus dem Schlaf. Verwandte aus Winnyzja, das weiter entfernt von der ukrainisch-rumänischen Grenze liegt als Czernivtsi, berichten aufgeregt: Kyjiw würde angegriffen und seit Stunden hörten auch sie Raketen und Explosionen.

Mykola: Das war in der Nacht, wir, wir konnten nicht schlafen, als die Nachricht kam. Also wir waren sehr aufgeregt und natürlich erschrocken in der Familie, vor allem, weil wir wussten nicht, was auf uns zukommt.

Ira: Für Menschen in der Ukraine ist dieser 24. Februar das, was der 11. September für die USA ist – ein Tag, der sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hat. Niemand wird jemals den Moment vergessen, in dem die Nachricht von der Vollinvasion Russlands die Welt erschütterte. Auch ich erinnere mich genau an die Welle aus Fassungslosigkeit und Schmerz, die mich an diesem Morgen überrollte. Meine Freundin Karina aus Odessa schrieb mir, dass ihre Stadt, in der ich 2021 Stadtschreiberin war, unter Beschuss stand und der Flughafen brannte. Sie war in Panik. Mykola Kuschnir fühlte ähnlich.

Mykola: Das war so eine Mischung, von der aus der Verwirrung und Angst und Unsicherheit und Ungewissheit, diese Gefühle waren damals in der Familie vor allem. Die Lage war undurchschaubar und das war das Schlimmste, was man empfinden kann. Wenn man nicht weiß, was zu tun ist. Man musste rechnen, dass alle Männer sofort eingezogen werden und ich wusste nicht, was auf mich zukommt schon am den nächsten Tag, ja, also das könnte schon schnell passieren.

Ira: An diesem Tag fanden glücklicherweise keine russischen Raketen ihren Weg nach Czernivtsi. Die Stadt blieb bis heute von Angriffen verschont. Anderswo in der Ukraine trafen in jenen Februartagen russische Raketen aber Wohnblöcke, Theater und Krankenhäuser. Hunderte Menschen verloren ihr Leben. Eine massive Fluchtbewegung Richtung Westen setzte sich in Gang. Auch Mykola Kuschnir entschied, seine Frau und Tochter zur rumänischen Grenze zu bringen.

Mykola: Und da haben wir bemerkt. Dass es Tausende Autos auf der Straße sind, und das war schon Staus und wir konnten kaum bewegen in diesem Stau, und da mussten wir zu Fuß mit Kindern.

Ira: Als er wieder in Czernivtsi ist, eilt er sofort zum Museum, das er seit 2012 leitet.

Mykola: Ich muss sagen, unser Museum ist kein normales Museum in der Ukraine.

Ira: Erklärt er mir zu Beginn unseres Gesprächs.

Mykola: Es ist ein privates Museum oder öffentliches Museum und wir wurden von den jüdischen NGOs gegründet, und wir werden auch nicht vom Staat und nicht von der Stadt Chernowitz finanziert. Sondern vom Verband jüdischer Organisationen und Gemeinden der Ukraine mit Sitz in Kyjiw.

Ira: Das Museum für jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina widmet als eines von wenigen in der Ukraine der jüdischen Kultur. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Czernowitz – so hieß die Stadt, als sie zum Habsburger Reich gehört hatte – ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in Osteuropa. Bis 1941 war mehr als ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Orthodoxe und assimilierte, deutschsprachige Jüdinnen und Juden lebten hier und bildeten mit der Dichterin Rose Ausländer oder dem Autor Paul Celan eine Hochburg der Kultur. Während der deutschen und rumänischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurde die jüdische Gemeinde von Czernowitz fast vollständig ausgelöscht. Mykola Kuschnir hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das jüdische Erbe der Stadt zu erhalten. Jetzt erst recht.

Mykola: Mein Plan war, dass wir schnell die Liste von den wertvollsten Objekten zusammenstellen, diese aus unserem Depot und aus der Dauerausstellung herausnehmen, verpacken und - sollte es dazu kommen - dann auch mit dem Auto wegbringen, irgendwo in eine sichere, oder eine Stelle, wo man sich überhaupt nicht vorstellen kann, dass dort etwas deponiert ist.

Ira: Er agiert auf eigene Faust. Denn obwohl schon mehrere Tage seit dem 24. vergangen waren, hatte Mykola noch immer keine Anweisungen von der Stadtverwaltung oder aus Kyjiw erhalten. Was sollte er mit den rund 3000 Exponaten anfangen? Er beginnt also die wertvollsten zu sichern. Als er mir davon erzählt, denke ich an achtarmige Leuchter aus Gold oder edelsteinbesetzte Kronen, welche oft Schriftrollen der Tora schmücken. Es sind aber ganz andere Dinge, die Mykola in Sicherheit bringen will.

Mykola: Es geht nicht um teure Gemälde oder Gegenstände aus Gold. Es geht darum, dass diese Objekte nur in einigen Exemplaren sind. Wie zum Beispiel die Mitgliedskarte eines Mannes, der in der Zionistischen Partei der Bukowina Mitglied war, das wurde zufällig gefunden in Chernowitz, und das gibt in der in der Welt nur im einzigen Exemplar und das ist für uns wertvoll. Für uns sind das seltene Objekte, das ganze jüdische Erbe der Bukowina wurde im 20. Jahrhundert vernichtet. Durch den Zweiten Weltkrieg, Holocaust, aber auch vor allem vor allem, das betone ich immer, vor allem in der Sowjetzeit.

Ira: Seltene Beweise der jüdischen Geschichte wie diese Mitgliedskarte haben deshalb einen enormen Wert. Mykola Kuschnir muss schnell handeln, das spürt er deutlich.

Mykola: Wir schauten natürlich immer nach Osten, was da passiert, die Russen waren schon bei Kyjiw, das war natürlich eine schon ernste Situation. Wir wussten nicht, ob es zu einem Borbardement kommt, wob dann nicht Angriffe auf Chernowtz stattfinden. Wir rechneten mit solchen Angriffen und wussten, dass wir schnell agieren mussten.

Ira: Mykola hat keine Angst, dass sein Museum, wie andere Gebäude auch, in Zeiten des Krieges getroffen wird. Er fürchtet, dass der Kreml sein Museum gezielt angreifen und plündern könnte – wie es auch anderen Orts bereits passierte. Kultur ist von Anfang an DAS Ziel der Russen, erfahre ich aus einem Gespräch mit Milena Chorna. Sie leitet den ukrainischen Museumsverband und ist viel unterwegs. Trotzdem nimmt sie sich Zeit für unser Interview. Welche Ziele verfolgt Russland im Hinblick auf die ukrainische Kunst und Kultur? Milena Chorna hat dafür verschiedene Erklärungen.

Milena: Der erste Typ ist, sie plündern und nutzen Kunstgegenstände, um sie in ihre eigene Geschichtsschreibung zu integrieren. Sie plündern große Werke von so genannten russischen Künstlern und bringen sie nach St. Petersburg oder Moskau. Aber die meisten Artefakte bleiben an Ort und Stelle, solange sie nicht annehmen, dass die Region wieder befreit wird. In so einem Fall würden sie alles plündern oder vernichten.

Ira: Um den zweiten Typ zu beschreiben, nimmt sie eine kleine Stadt in der Region Luhansk als Beispiel.

Milena: Die besetzte Stadt zeigte ein apokalyptisches Bild, wie es die Welt aus Filmen über Mariupol kennt. Viele Städte und Dörfer in besetzten Gebieten sehen ähnlich aus. Doch eines der ersten Projekte der Besatzer war der Wiederaufbau des Museums im Stadtzentrum, in das sie beträchtliche Summen investierten. Innerhalb weniger Monate entstand ein modernes Museum mit einer Ausstellung, die auf gestohlenen Artefakten basiert, jedoch eine völlig umgeschriebene Geschichte erzählt. Das Problem liegt darin, dass Russland bereits während der gesamten Sowjetzeit massiv in Propaganda durch Museen investierte. Dieser Ansatz hat sich bis heute nicht geändert: Russische Museen dienen nach wie vor als Werkzeuge der Propaganda.

Ira: Sie nutzen Artefakte also gezielt für Propagandazwecke. Und alles, was sie nicht nach Russland verschleppen oder als Teil ihrer Geschichte umdeuten können, wird zerstört. Dazu zählen etwa alte Kirchen wie die Sankt-Andreas-Kathedrale in Saporischschja, die im Januar 2025 durch eine russische Rakete stark beschädigt wurde. Auch ein Museum in der Kleinstadt Iwankiw fiel solch einem Angriff zum Opfer. Alina Mozolevska, die unter anderem erforscht, wie der Krieg den Umgang mit Kultur in der Ukraine prägt, zeichnet ein erschütterndes Bild.

Alina: Allein 2022 wurden mehr als 1.000 Kulturgüter zerstört. Denkmäler, Archive, Museen, verschiedene Stätten des historischen und kulturellen Erbes, aber auch Naturschutzgebiete. Für das erste Halbjahr 2024 wird die Zahl der getroffenen Objekte auf 1.062 geschätzt, darunter mehr als 100 von nationaler oder historischer Bedeutung – Orte, die für die kulturelle Identität und Geschichte der Ukraine von zentraler Bedeutung sind.

Ira: Das volle Ausmaß der Zerstörung bleibt unklar, da die Lage in den besetzten Gebieten nicht überprüfbar ist. Laut Alina Mozolevska gibt es das gezielte Vernichten aber nicht erst seit 2022.

Alina: Noch vor der umfassenden Invasion Russlands wurde die Zerstörung von Kultur und Geschichte ein zentrales Ziel der Aggression. Eine der propagandistischen Rechtfertigungen für den Angriff ist die Behauptung, die Ukraine existiere nicht – weder ihre Geschichte noch ihre Identität oder Kultur. Die russische Regierung, das Regime und die Armee, versuchen das ukrainische Kulturerbe zu zerstören, um die Behauptung zu beweisen, dass die Ukraine nicht existiert. Die Ukraine als Nation existiere nicht: Das ist vielleicht die einfachste Erklärung dafür, warum Kultur in diesem Krieg wichtig ist.

Ira: Die Angriffe sind also Teil einer umfassenden Strategie, um der Ukraine ihre Identität abzusprechen und sie als eigenständigen Staat zu destabilisieren. Eine Taktik, die in der Geschichte nicht neu ist. Vor rund hundert Jahren hatten zum Beispiel die Osmanen versucht, das armenische Volk und seine Kultur auszulöschen. Damit war der Genozid auch ein gezielter Versuch, die armenische Identität zu eliminieren. Kirchen, Klöster, Schulen und kulturelle Stätten wurden damals zerstört, um ihr kulturelles Erbe zu tilgen und ihre Ansprüche auf Autonomie zu untergraben. Aus den Gesprächen wird immer klarer, warum Mykola Kuschnir und andere Leiterinnen und Leiter von Museen so unerbittlich um den Erhalt ihrer Exponate kämpfen. Doch dieser enorme Einsatz hat aus Sicht von Milena Tschorna nicht nur gute Seiten.

Milena: Um die Wahrheit zu sagen, die größte Herausforderung für uns alle und für mich persönlich, als Leiterin des ukrainischen Museumsverbandes, konzentriert sich auf die ausgelagerten Museen und die Museen an der Front. Die größte Herausforderung besteht darin, die Menschen dazu zu bewegen, gefährdete Gebiete zu verlassen. Viele bleiben aus tiefer Verbundenheit zu ihren Sammlungen, bis der letzte Gegenstand evakuiert ist. Unter ständigem Raketen- und Artilleriebeschuss verlieren sie oft den Bezug zur Realität. Aus einem instinktiven Selbsterhaltungstrieb heraus glauben sie, dass nichts Schlimmes passieren wird – eine gefährliche Illusion. Gleichzeitig sind die Museumsmitarbeiter unverzichtbar, denn ohne sie gäbe es keine Museen.

Ira: Manchmal kommt jede Rettung zu spät. Auf der Webseite www.theukrainians.org finde ich die Lebensgeschichten vieler Menschen aus der ukrainischen Kulturszene, die dem Krieg bereits zum Opfer gefallen sind. Es sind Schriftstellerinnen wie Victoria Amelina, Musiker wie Yurii KerpaTenko oder Menschen wie Iryna Osadcha. Von 2014 bis zu ihrem Tod leitete sie das Heimatmuseum in Kupiansk. Im April 2023 starb Iryna Osadcha bei einem russischen Angriff auf das Kupiansker Heimatmuseum. Ihr Tod steht für mehr als den Verlust eines Lebens – er markiert die Zerstörung eines Teils der ukrainischen Kultur – „menschliches kulturelles Kapital“, wie Alina Mozolevska es ausdrückt.

Alina: Hunderte von Aktivist:innen, Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Tänzer:innen und Journalist:innen wurden während der russischen Aggression getötet. Damit ging ein wertvoller Teil unwiederbringlich verloren. Viele Kunstwerke, Projekte und Texte, die hätten entstehen können, werden nun nie geschaffen.

Ira: Werke, die nie gemalt, Romane, die nie geschrieben werden – allein der Gedanke schnürt mir die Kehle zu. Ihr Tod, wie der von Hunderttausenden Ukrainerinnen und Ukrainern, scheint so unbegreiflich sinnlos. Dieser Krieg will nicht nur die bestehende ukrainische Kultur zerstören, er will ihr auch jegliche Zukunft nehmen. Doch es gibt Hoffnung: Die Kulturszene zeigt eine beeindruckende Widerstandskraft, rückt enger zusammen und vernetzt sich wie nie zuvor. Treffen wie eins 2024 in Berlin, ermöglicht von der Stiftung OBMIN, stärken diesen Zusammenhalt. Alina Mozolevska, Milena Chorna und Mykola Kuschnir sind Teil dieser Bewegung und beweisen, dass Kultur selbst in den dunkelsten Zeiten bestehen kann. Museumsleiter Mykola Kuschnir erzählt, wie solche Initiativen wirken.

Mykola: Dank diesem Netzwerk „Kulturgutschutz Ukraine“, aus Deutschland initiiert, konnten wir zum Beispiel einmal pro Monat online, das heißt per Zoom, mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Regionen der Ukraine sprechen und unsere Erfahrungen austauschen. Und wir haben uns kennengelernt, eigentlich zum ersten Mal. Und das finde ich, ist schon sehr große Hilfe für uns, dass wir auch gesehen, dass wir ein großer Kreis sind und da kann man schon etwas bewirken.

Ira: Der Austausch würde ihm helfen, das Museum auch unter erschwerten Bedingungen zu führen. Über das Netzwerk kann er zudem Spenden erhalten - darunter sind Verpackungsmaterial, feuersichere Kisten oder Schränke aus Deutschland. Eigentlich klingt es ja gut, wenn Exponate gut verpackt an einem sicheren Ort lagern. Doch ganz so einfach ist es nicht. Für viele Bilder oder ausgestopfte Tiere ist es einfach schädlich, ganz ohne Sauerstoff in einem miefigen Keller zu liegen. Davon erzählt mir auch Halina Bednarczyk. Sie leitet das Heimatmuseum in Ivano-Frankiwsk, einer westukrainischen Stadt, die ebenso wie Chernivtsi bis 1918 zum Habsburger Reich gehört hatte und später Teil der Sowjetunion wurde.

Halina: Das Museum besitzt 5.000 traditionelle Trachten aus der Region – ein wertvolles Erbe einheimischer Ethnokultur. Doch es fehlt an geeigneten Lagerbedingungen, um diese Schätze zu bewahren.

Ira: Sie ist froh, ebenso wie Mykola Kuschnir Teil des Netzwerks zu sein, das sich gegenseitig unterstützt. Auch Forscherin Alina Mozolevska sieht viele Entwicklung rund um die ukrainischen Museen positiv.

Alina: Im Jahr 2022 war unklar, ob die Museen weiterarbeiten und ihre Sammlungen retten könnten. Doch sie haben große Anstrengungen unternommen, um ihre Bestände zu sichern und zu verlagern. Aber jetzt ist es ganz anders. Die Museen sind sehr aktiv, es gibt eine Menge Projekte, die mit den aktuellen Ereignissen des russisch-ukrainischen Krieges in Verbindung stehen. Heute sind viele Ausstellungen auch Teil der ukrainischen Kulturdiplomatie. Wanderausstellungen machen die Kunst auch international zugänglich.

Ira: Eine solche Wanderausstellung ist im ersten Halbjahr 2025 in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen. Gezeigt werden 60 Werke aus der Sammlung des Museums für westliche und östliche Kunst aus Odessa. Als ich sie kürzlich besuchte, überkam mich Trauer. Die Werke, die ich 2021 noch in der Stadt am Schwarzen Meer bewundert hatte, hingen nun im grauen Berlin – fremd und heimatlos. Gleichzeit bin ich froh, dass sie hier zumindest zeitweise in Sicherheit sind und bin dankbar, dass die Bundesregierung die Ukraine unterstützt. Vor allem 2022 half Berlin mit hohen Fördersummen. Museen wie das in Berlin Karlshorst, das die deutsch-sowjetische Geschichte beleuchtet, fungierten damals als Mittler und verteilten das Geld an Einrichtungen mit Bedarf. Von Dr. Jörg Morré, Leiter des Museums, erfahre ich Genaueres.

Morre: Wir konkret als Museum hatten im Jahre 2022 eine größere Fördersumme, das waren 450.000 Euro, die wir von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien bekommen hatten, direkt einzusetzen. Und wir hatten 58 Museen und Gedenkstätten und Archive in der Ukraine, die wir mit kleineren Summen unterstützt haben und meistens so, dass die damit vor Ort das benötigte Material eingekauft haben, n Scanner n Fotoapparat, aber auch Feuerschutztüren, Metalltüren, Bretter, um zerstörte Fenster abzudichten Planen und solche Dinge.

Ira: Auf der Webseite der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien lese Ich: „Nach Kriegsbeginn hat der Bund 2022 kurzfristig rund 20 Millionen Euro aus dem Ergänzungshaushalt bereitgestellt. Mehrere dieser Initiativen wurden weiterhin aus dem Etat der Bundesbeauftragten gefördert. Auch das Kooperationsprojekt zwischen dem Museum für westliche und östliche Kunst aus Odessa und den Staatlichen Museen zu Berlin erfährt eine solche Förderung. Doch große Summen wie 2022 fließen inzwischen nicht mehr. 

Morre: Das brach dann aber ab, weil die BKM das nicht weiter gefördert hat und wir als Museum alleine dazu nicht in der Lage sind.

Ira: Erinnert sich Historiker Jörg Morré. Er stehe aber weiterhin in engem Kontakt mit ukrainischen Einrichtungen. Im Dezember war er bei einer Ausstellungseröffnung im Kyjiewer Weltkriegsmuseum. Mittlerweile stünde weniger die materielle Hilfe im Fokus, mehr der Wissenstransfer.

Morre: Also einmal der direkte Austausch des Personals. Also wir hatten jetzt zweimal, einmal für 4 Wochen, einmal für 10 Tage, Kolleginnen aus dem Weltkriegsmuseum in Kiew bei uns und das ist ein wichtiger Aspekt, also ein Museum, das uns thematisch sehr nahesteht. Und das heißt umgekehrt, dass wir auch mal in die ukrainischen Museen fahren. Ich war jetzt Mitte Dezember in Kyjiw im Weltkriegsmuseum und da pflege ich die Hoffnung, dass gemeinsame Ausstellungsprojekte oder Kolloquien, inhaltlicher Austausch darüber entsteht.

Ira: Im Gespräch mit Milena Chorna gewinne ich den Eindruck, dass die finanzielle Hilfe ohnehin nicht entscheidend sei. Und, dass der Wissenstransfer durchaus in beide Richtungen möglich ist. Die ukrainischen Museen mussten sich rasant digitalisieren.

Milena: Es bleibt keine andere Wahl. Wenn die Museumshallen leer sind und alles evakuiert oder versteckt wurde, muss man nach neuen Lösungen suchen. Dabei erweist sich der IT-Sektor als eine große Hilfe – oft auf freiwilliger Basis. Einige Unternehmen haben uns, insbesondere den Verband und die Museen, direkt angesprochen und unterstützen uns aktiv. Sie erstellen zum Beispiel VR-Touren durch zerstörte Museen. Ein Heimatmuseum, das beinahe zerstört wurde, ist ein solches Projekt. Aktuell arbeiten sie daran, die Ausstellungen digital zu rekonstruieren. Mit einer VR-Brille kann man durch die virtuellen Räume gehen und die rekonstruierten Gemälde und Exponate betrachten.

Ira: Ein weiteres Beispiel, welche Möglichkeiten die Digitalisierung eröffnet, ist das Nationalmuseum Taras Shevchenko in Kyjiw. Durch detailgetreue Kopien und immersive Shows, die mithilfe modernster IT-Technologien umgesetzt wurden, hat das Museum seine Ausstellung vollständig neu interpretiert. So können Besuchende nun beispielsweise durch Animationen in die Kunstwerke eintauchen und sie so auf ganz neue Weise erleben. Das ziehe viele Menschen an, sagt Milena Chorna.

Milena: Die Menschen besuchen weiterhin Museen – manchmal sogar häufiger als früher, weil sie ein Stück Normalität erleben möchten. Das Nationaltheater in Kyjiw ist zum Beispiel komplett ausgebucht, oft schon zwei Monate im Voraus. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir den Krieg nicht spüren – im Gegenteil. Gerade deshalb intensivieren wir unsere kulturellen Aktivitäten. Sie geben uns die Chance, zumindest für kurze Zeit die Illusion zu erleben, dass alles in Ordnung ist.

Ira: Weiterhin bliebe die Digitalisierung ganz oben auf der Prioritäten Liste der ukrainischen Museen, so Milena Chorna. Und aus den Beispielen, die ich gehört habe, gewinne ich den Eindruck, dass die ukrainische Museumslandschaft Deutschland etwa im Bereich der Digitalisierung durchaus Anregungen bieten könnte.

Milena: Die Digitalisierung ist jetzt besonders wichtig, denn wenn unsere Sammlungen nicht digitalisiert sind, können wir im Falle eines Verlusts, einer Plünderung oder einer Zerstörung nie beweisen, dass wir sie jemals besessen haben.

Ira: Auch im Heimatmuseum in Iwano-Frankiwsk ist Digitalisierung längst Alltag. Über 118.000 Objekte sollen bald auf der internationalen Plattform „Museum-digital“ verfügbar sein. Zugang erhielt das Museum durch das Projekt „Memory Savers“, gefördert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Auch im jüdischen Museum in Chernivtsi werden moderne Technologien kreativ genutzt.

Mykola: Die Prioritäten mussten wir ändern, die ganze Gesellschaft hat ihre Prioritäten gewechselt. Als Museum mussten wir uns anpassen und reagieren und das haben wir auch gemacht.

Ira: Sagt Leiter Mykola Kuschnir. Weil gerade nicht viele Menschen ins Museum kommen, nutzen er und seine Kolleginnen die Zeit, um neue Formate zu entwickeln. Aktuell arbeiten sie an einer Lernapp für Jugendliche, auch eine Webdoku ist geplant, um über die jüdische Geschichte der Bukowina und den Holocaust aufzuklären, der bislang wenig Beachtung in ihrer Ausstellung gefunden hat. Ukrainische Museen wandeln sich – auch in ihrer Rolle für die Gesellschaft. Heimatmuseen wie die von Halina Bednarczyk zum Beispiel werden wichtiger – wie mir Milena Chorna erklärt:

Ira: Sie seien wertvoll für die Gemeinschaften und erste Anlaufstelle für Geflüchtete, die dort Essen oder Kleidung bekommen können. Vor allem Museen nahe dem Frontverlauf seien seit 2014 zu Orten der Hilfe und Solidarität geworden. Aber auch die im Westen des Landes gelegenen Einrichtungen wie das Heimatmuseum in Ivano-Frankiwsk. Leiterin Halina Bednarczyk beschreibt die neuen Aufgaben ihres Museums:

Halina: Das Museum hat viele Veränderungen durchgemacht und bietet nun auch Veranstaltungen für Kinder von Geflüchteten und für diejenigen, die ihre Familienmitglieder verloren haben. Kürzlich besuchten auch Kinder von Kriegsgefangenen das Museum. Uns ist wichtig, dass diese Kinder wissen, dass man sich um sie kümmert und sie nicht vergisst.

Ira: Wenn Museen wie das in Iwano-Frankiwsk nicht nur Kulturgut zeigen, sondern Zufluchtsorte für Menschen werden, spricht man von ihnen als „dritte Orte“. Solche Orte entstehen in der Ukraine immer häufiger. Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft fördert diese Entwicklung mit dem Programm „YeMistetschko – ein Ort für alle“, das Museen, Theater oder Archive unterstützt, sich stärker für ihre Gemeinschaft zu engagieren. Bei meiner Recherche bin ich auf einen dritten Ort gestoßen, der 2024 sogar für seinen innovativen Ansatz mit einem internationalen Preis ausgezeichnet worden ist – das Chanenko-Museum in Kyjiw. Nach einem russischen Raketenangriff öffnete es bald wieder seine Räume, bot den Menschen Tee und Gemeinschaft. Später führte eine Oper die Besucher durch leere Ausstellungsräume, da die Kunstwerke zum Schutz – wie in allen ukrainischen Museen – entfernt wurden. Mittlerweile zeigt es Kunstwerke aus dem Ausland wie die eines Sammlers aus Den Haag. Derzeit digitalisiert das Chanenko-Museum seine Sammlung und plant eine Wanderausstellung in Städten wie Warschau und Köln. Dritte Orte sind auch wichtig, um das Land militärisch zu unterstützen. Im Museum, das Halina Bednarczyks leitet, entstehen seit drei Jahren in freiwilliger Arbeit Tarnnetze und kleine Kunstwerke auf Patronenhülsen, die versteigert werden.

Halina: Wir sammeln Spenden, indem wir Patronenhülsen bemalen und versteigern. Mit dem Erlös unterstützen wir Mitarbeitende des Museums, deren Angehörige an der Front sind, aber auch andere Armee-Einheiten. Bisher konnten wir sieben Drohnen kaufen.

Ira: Halina Bednarczyk setzt dabei starke auf die Kommunikation in sozialen Medien. Auf dem Facebook-Profil des Museums sehe ich Videos von Kunstwerken und singenden Kindern und Erwachsenen in traditioneller Tracht. Viele der Posts haben Tausende von Aufrufen. Das Museum mit seinen digitalen Spenden-Sammel-Aktionen ist bei weitem kein Einzelfall. Wissenschaftlerin Alina Mozolevska hat untersucht, wie Kultureinrichtungen und einzelne Künstler:innen soziale Netzwerke nutzen, um Geld für die Verteidigung gegen den Aggressor zu sammeln.

Alina: Gemeinsam mit meinen Kollegen habe ich untersucht, wie digitale Künstler Instagram nutzen, um Spenden zu sammeln, Bewusstsein zu schaffen und mit einem internationalen Publikum zu kommunizieren – auch, um Traumata innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zu verarbeiten. Wir analysierten über 50 Accounts ukrainischer Künstler und stellten fest, dass sie sehr viele Werke schaffen, die eindrücklich vermitteln, was in der Ukraine geschieht. Digitale Plattformen dienen nicht nur der Verbreitung und Vermittlung von Kultur, sondern auch als Instrument zur Mobilisierung, Mittelbeschaffung und Bewusstseinsbildung. Sie ermöglichen die Kommunikation mit Menschen in der Ferne, schaffen Verbindungen und fördern den Austausch. Innerhalb der Ukraine helfen sie, traumatische Erfahrungen zu teilen und Brücken zwischen verschiedenen Teilen der Gemeinschaft zu bauen.

Ira: Gleichzeitig verliert Museumsdirektorin Halina Bednarczyk den eigentlichen Zweck ihres Museums nicht aus dem Blick: nämlich die Geschichte und Kultur ihrer Region zu bewahren. Im Museum sammeln sie Objekte und Erinnerungen im digitalen Raum, um die aktuelle Geschichte für die Zukunft zu konservieren. Sie handelt hier auch im Bewusstsein, die Deutungsmacht um die Geschichte und Kultur der Ukraine zu bewahren. Auch diese Rolle der Kultur hat Alina Mozolevska untersucht.

Alina: Kultur wird zunehmend zur Soft Power und einem strategischen Werkzeug der Kulturdiplomatie. Heute gibt es zahlreiche internationale Projekte, die helfen, ein stärkeres Narrativ für die Ukraine zu schaffen, das für ein internationales Publikum attraktiv ist.

Ira: So gesehen sind Halina Bednarczyk und Mykola Kuschnir gewissermaßen in die Schlacht gezogen. Das jüdische Museum in Chernivtsi bietet mittlerweile Workshops für Schülerinnen an, in denen sie gegen Hate Speech und Fake News sensibilisiert werden. Es ist dem Museum wichtig, aktiv die Narrative über die Ukraine mitzugestalten. Dabei arbeitet es auch mit Jugendlichen aus dem rumänischen Teil der Bukowina zusammen.

Mykola: Der Krieg wird auch im Internet geführt und man verbreitet diese Lügen, diese, falschen Informationen und versucht auch Kinder, Jugendliche zu beeinflussen, um Verwirrung zu streuen und Ängste zu schüren. Und das ist wichtig dann auch den jungen Menschen, die viel Zeit verbringen im Smartphone zum Beispiel, auch sagen, dass es da auch Risiken gibt.

Ira: Milena Chorna sieht in der aktuellen Lage vor allem für Geschichtsmuseen eine Chance, gängige Narrative zu hinterfragen und die Vergangenheit neu zu betrachten.

Milena: In der aktuellen Situation, in der viele Ausstellungen leer sind und die Wände schweigen, ist dies eine wichtige Gelegenheit, die Narrative zu hinterfragen. Es wäre eine große Tragödie, wenn beim Wiederaufbau alte postsowjetische Exponate und Narrative zurückkehren würden. Wir haben keine Erfahrung damit, diese zu überarbeiten, wie es zum Beispiel in Polen oder den baltischen Staaten der Fall ist. Deshalb arbeiten wir daran, eine Methodik zu entwickeln, um kontroverse Geschichte zu bearbeiten und mit schwierigen Momenten umzugehen – eine Herausforderung, die normalerweise in friedlichen Zeiten angegangen wird.

Ira: In diesem Zusammenhang mahnt sie auch den westeuropäischen Blick auf die Ukraine an. Noch immer würde sie in historischen Museen in Deutschland oder den Niederlanden einem nicht zutreffenden Bild von der Ukraine begegnen.

Milena: Als ich europäische Museen besuchte, fiel mir auf, dass in vielen Ausstellungen zum Zweiten Weltkrieg Texte zu finden sind, die etwa sagen, dass Nazi-Deutschland Russland besetzt hatte. Dabei war es nicht nur Deutschland. Und es war auch nicht nur Russland. Man kann die Begriffe Sowjetunion und Russland nicht einfach gleichsetzen. Die deutsche Armee marschierte zuerst in Belarus und der Ukraine ein, bevor sie nach Russland vordrang. Als ich die Museumsdirektoren darauf ansprach, antworteten alle, dass es einfacher sei, von Russland zu sprechen. Ich finde es aber wichtig, diese Begriffe klar zu differenzieren – lasst es uns also machen! Wir haben bereits begonnen, die Rolle der Ukraine im Zweiten Weltkrieg zu überarbeiten.

Ira: Denn indem westeuropäische Länder, Sowjetunion mit Russland gleichsetzen und damit den Sieg über Nazideutschland allein Russland zusprechen, würden sie die manipulativen Erzählungen Russlands übernehmen.

Milena: Es wird immer deutlicher, dass wir die Geschichte des Zweiten Weltkriegs überdenken müssen. Die Kriege, die Europa prägten, fanden größtenteils auf ukrainischem Boden statt. Das Schicksal Europas wurde also oft hier entschieden. Es wäre hilfreich, die Narrative zu ändern und die europäische Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs zu überdenken.

Ira: Milena wird bei den Worten emotional, ich sehe Tränen in ihren Augen aufsteigen und ich verstehe sie. Auch in Hinblick auf die Ignoranz und das Unwissen westeuropäischer Länder gegenüber osteuropäischer Geschichte. Das legte 2022 auch die MEMO-Studie offen, eine repräsentative Untersuchung zur Erinnerungskultur in Deutschland. Auf die Frage „Welche drei europäischen Länder, abgesehen von Deutschland, verbinden Sie persönlich am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg?“, antworteten kurz vor der russischen Vollinvasion nur 1 % der Befragten Ukraine, aber 36 Russland. Westeuropa hat also einen verfälschten Blick Richtung Ukraine – ich hake noch mal bei Dr. Morré vom Museum in Karlshorst nach: Wie geht seine Einrichtung damit um?

Morre: Das fängt grade erst an. Das eine ist eben dieses im Deutschen sehr schlampige Umgehen mit der Zuordnung sowjetisch und russisch, das wird oft als Synonym verwendet, und das passiert bis heute immer noch. Bei unserer Themensetzung sind wir erstmal noch bei der, die wir hier vor 5, 10 Jahren gesetzt haben. Die ist auch schon sehr lange gibt, das ist der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, wo wir auch schon – wir haben eine Ausstellung von 2013 – durchaus Anknüpfungspunkte haben, was jetzt verschiedene nationale Sichtweisen angeht Das verstärken wir aktuell gerade durch eine Sonderausstellung, da geht es um die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts, wo wir in die Länder hinein gehen und uns dafür interessieren, was in den betroffenen Ländern, das ist nicht nur Polen, gesehen wird. Also da sind wir jetzt ein bisschen sensibilisierter.

Ira: Ich habe das Museum selbst 2024 besucht und kann bestätigen, dass das Umdenken bereits sichtbar ist, es aber trotzdem noch einiges zu tun gibt. Während Deutschland noch damit beschäftigt ist, sein Verständnis für die sowjetische Vergangenheit einem dringend notwendigen Update zu unterziehen, geht der Blick der Ukraine Richtung Zukunft. Dazu gehört insbesondere der Wiederaufbau der Museen, wie Milena Chorna berichtet.

Milena: Wir haben zwar keine Finanzierung oder Materialien, aber wir haben fähige Menschen. Es mag idealistisch klingen, aber wir müssen direkt wiederaufbauen, denn wir wissen nicht, wie lange der Krieg noch dauert. Wir haben die Fähigkeit, unsere Museen wieder aufzubauen – hoffentlich nicht als postsowjetische, sondern als moderne, europäische Museen.

Ira: Welche Hilfe braucht die Ukraine jetzt?

Milena: Als Expertin für den Schutz des kulturellen Erbes der Ukraine bei der Europäischen Kommission höre ich oft diese Frage. Meine Antwort lautet: Gebt uns Raketen oder schützt unseren Himmel. Wir brauchen Vernetzung, denn wir teilen eine gemeinsame Geschichte – wir sind Europa. Natürlich brauchen wir finanzielle Hilfe, aber es fällt uns schwer, um Unterstützung zu betteln. Deshalb sage ich immer: Wir bieten als Gegenleistung Fachwissen an.

Ira: Und welche Hilfe wünschen sich Mykola Kuschnir und Halina Bednarczyk?

Mykola: Also das, was wir bis jetzt hatten, das heißt gute Partnerschaft mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und aus anderen Ländern. Das schätzen wir sehr hoch, das wollen wir auch weiter haben. Das motiviert natürlich zur Arbeit. Das macht unsere Arbeit möglich, auch finanziell, materiell, meine ich, und das bringt auch neue Erfahrung, neue Technologien in unserer Arbeit, so auch im Rahmen der Projekte. Und ansonsten: Verständnis, Unterstützung, Solidarität – das wünschen uns natürlich von unseren Partnern und Menschen im Westen.

Ira: Für Halina Bednarczyk ist ein Austausch auf Augenhöhe ebenfalls am wichtigsten. Gespräche, wie das, was wir geführt haben, seien nützlich, sagt sie am Ende unseres Zoom-Calls. Dieser Austausch würde auch moralisch helfen, es ginge um die menschliche Unterstützung, nicht die finanzielle. Ebenso wie ihr Kollege in Chernivtsi wird sie weiterhin in der Ukraine bleiben, obwohl fast täglich Raketenalarm auf den Straßen ihrer Heimatstadt ertönt. Anfangs haderte sie sehr mit dieser Entscheidung, zumal sie zwei Kinder hat. Am Ende war sie sich aber sicher:

Halina: Von mir hängt die Bezahlung von 22 Mitarbeitenden ab. Hier sind Menschen, die ihre Arbeit wirklich lieben. Ich werde bleiben. Ich hätte schlimme Gewissensbisse, wenn ich sie und unsere Sammlung im Stich lassen würde.

Ira: Jetzt bin ich es, die Tränen in den Augen hat. Diese Menschen berühren mich zutiefst – ihr unerschütterlicher Idealismus, ihre unbeugsame Stärke, ihr Mut, alles für die Ukraine zu riskieren. Sie kämpfen dafür, dass ihre Heimat frei und demokratisch bleibt und setzen das Wohl der Gemeinschaft über persönliche Interessen.

Mykola: Was werden Sie tun, wenn sie erfahren, dass der Krieg beendet ist und die Ukraine befreit ist?

Mykola: Meine Familienangehörigen umarmen natürlich. Und, wahrscheinlich vor den Menschen knien, die jetzt die Front halten. Die machen wirklich Wunder jetzt. Das werde ich tun, wahrscheinlich als erstes.

Ira: Das war Trümmer und Träume, ein Podcast der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. In der nächsten Folge spreche ich mit einer Überlebenden des NS-Regimes, Eltern von entführten ukrainischen Kindern und Psychotherapeutinnen, welche die Traumata, die der russische Krieg in der Ukraine auslöst, heilen möchten. Mehr über die Projekte der Stiftung erfahren Sie auf www.stiftung-evz.de. Hat Ihnen die Folge gefallen? Teilen Sie sie mit anderen und helfen Sie dabei, die Ukraine sichtbarer zu machen.

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